Iubal, ein kleiner, schlaksiger Mann von vielleicht vierzig Jahren, hob seinen Weinpokal, so als wolle er Elagabal zuprosten.
»Aber, aber, mein Freund! Du kennst doch meinen Wahlspruch. Wer wirklich reich ist, hat es nicht nötig, darüber zu reden. Lassen wir dieses leidige Thema doch für den Abend.«
»Wie man hört, ist er einer der geschicktesten Rhetoriker in der Boyie, dem Rat der Hundert, der über das Schicksal unserer Stadt bestimmt.« Die Stimme des Gastgebers war einen Moment lang kühler geworden, doch dann verfiel er wieder in seinen frechen Plauderton. »Der unverschämt gutaussehende junge Mann dort vorne ist Oiagros, mein bester Kapitän. Er behauptet, daß seine Urahnin eine Nymphe gewesen sei und daß er vom ältesten thrakischen Königsgeschlecht abstamme, doch ich bin eher der Meinung, daß seine Stammutter eine Nereide gewesen sein muß, denn kein Sturm vermag ihm etwas anzuhaben, und selbst bei widrigster See hat er meine Schiffe bisher stets unbeschadet in den Hafen gebracht. Der ehrwürdige Greis an seiner Seite aber ist Azemilkos, der Hohepriester des Melkart, des Schutzgottes unserer Stadt. Wo so viele Priester um einen Tisch versammelt sind, werden die Götter unserem kleinen Fest heute abend sicher wohl gesonnen sein.« Elagabal lachte als einziger über seinen Scherz und griff nach den Datteln auf dem Tisch.
»Mir scheint, Ihr habt schon reichlich getrunken«, entgegnete der greise Priester eisig. »Sonst würdet Ihr wohl nicht auf diese respektlose Art von den Göttern sprechen. Ich hoffe, Ihr habt dem Melkart ein Opfer gebracht, bevor Ihr Euer Haus den Gästen geöffnet habt.« Das Gesicht des Alten sah zum Fürchten aus. Sein Schädel war kahlgeschoren, und seine welke Haut spannte sich so straff über die Knochen, daß sein Antlitz Samu an die Züge alter Mumien erinnerte. Anstelle von Augen klafften zwei rote, vernarbte Höhlen in seinem Kopf.
»Seid Ihr die Priesterin, die heute morgen im Tempel war, um dem Melkart eine Wachtel zu opfern?«
»So ist es«, entgegnete Samu und hoffte, daß er ihrer Stimme nicht den Ekel anhörte, den sie vor ihm empfand. »Ich sehe, daß Eure Priester Euch wohl unterrichten, Eure Erhabenheit.«
»Nur weil ich blind bin, heißt das nicht, daß ich nicht wüßte, was um mich herum geschieht. Ich selbst habe mir mit einem Opferdolch das Augenlicht genommen, um meinem Gott näher zu sein und nicht durch all das schnöde Blendwerk, das geschaffen ward, die Sinne der Sterblichen zu verwirren, von der Erkenntnis des wahrhaft Göttlichen abgelenkt zu werden. Doch genug davon! Im übrigen würde ich vorschlagen, daß wir darauf verzichten, einander mit Ehrennamen und Titeln anzusprechen, denn auch dies sind nur leere Hüllen, die fast nichts über das Wesen der vermeintlichen Würdenträger aussagen. Oder sollte es jemanden in dieser Runde geben, der darauf beharrt, daß wir die Förmlichkeiten beibehalten?«
Samu musterte die Gesichter der Anwesenden verstohlen, während sie sich vorbeugte, um nach den Datteln auf dem Tisch zu greifen. Iubal und der Priesterkönig Archelaos tauschten Blicke aus. Offenbar war der Hohepriester und Herrscher von Comana von der Rede des Alten einigermaßen verblüfft. Für das hohe Amt, das Archelaos bekleidete, war er noch sehr jung. Er hatte dunkle Haut, und ein kurzgeschorener Bart rahmte sein Gesicht. Sein schwarzes Haar war leicht gelockt und fiel ihm bis weit über die Schultern hinab.
Fast jeden seiner Finger schmückte ein Ring, und um seinen Hals hing eine schwere goldene Kette. Sein Gewand bedeckte seine Arme nicht, so daß man erkennen konnte, wie erstaunlich muskulös er für einen Priester war. Wahrscheinlich stand er dem wettergegerbten Oiagros kaum an Kraft nach.
»Nun, da mir keiner widerspricht, gehe ich davon aus, daß es keine Einwände gegen meinen Vorschlag gibt.« Azemilkos lächelte, was seinem Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem grinsenden Totenschädel verlieh. »Würdest du mir die Ehre erweisen, mir deine rechte Hand zu reichen, Priesterin?«
Samu blickte verblüfft zu Elagabal, doch dieser schien genauso verwundert zu sein wie sie. Mit einem unguten Gefühl folgte sie der Aufforderung des Hohepriesters. Wie die Kralle eines Raubvogels schnappte seine Hand nach ihr. Azemilkos hatte lange, gelbe Fingernägel. Mit ihnen strich er Samu über den Handrücken.
»Wende deine Hand bitte, so daß ihre Innenfläche zur Decke weist, sonst kann ich nicht in ihr lesen.«
Stumm gehorchte Samu. Sie hatte das Gefühl, als krieche ihr eine große Spinne über die Hand, als Azemilkos über ihre Finger tastete.
Der Hohepriester lachte leise. »Hast du Angst vor mir, Priesterin? Deine Hand ist ganz feucht.«
»Sollte ich das?« Samu starrte in seine vernarbten Augenhöhlen und betete stumm zu Isis, daß die Zauberreiche sie vor der Macht des Hohepriesters schützen möge.
»Die Göttin ist stark in dir, Samu. Da ist ein Schatten, den das Licht des Melkart nicht zu durchdringen vermag.
Ich sehe eine Frau in einem weißen Gewand und einen Mann, der einen Kopf wie ein Schakal hat. Sie beide ringen um dich, Samu! Ein ...«
Mit einem Aufschrei riß Azemilkos seine Hand zurück.
»Was ist geschehen?« Elagabal war aufgesprungen und kniete neben der Kline des Hohepriesters. Die anderen in der Runde starrten mit schreckensweiten Augen auf Samu.
Auch die Priesterin konnte sich nicht erklären, was der alte Mann hatte. Sie hatte weder etwas Ungewöhnliches gespürt noch einen Schutzzauber gegen ihn gewirkt. Spielte er womöglich nur mit ihr? Sein Atem ging keuchend, doch das konnte vorgetäuscht sein. Sie sollte vor ihm auf der Hut sein!
»Laß mich in Frieden, Elagabal. Mir fehlt nichts!« krächzte Azemilkos wütend, dann wandte er sich Samu zu. »Sag mir, woher kommst du, Priesterin!«
»Aus Ägypten. Ich bin Priesterin im Tempel von .«
»Wie sahen die Ohren des hundeköpfigen Mannes aus?« unterbrach sie Archelaos. »Welche Form hatten sie?«
»Was fällt dir ein, ihr ins Wort zu fallen«, giftete Aze-milkos ihn an. »Wozu ist das überhaupt von Bedeutung?«
»Sag mir, wie die Ohren aussahen, und ich sage dir, was es damit für eine Bewandtnis hat, alter Mann«, entgegnete der Priesterfürst arrogant.
Azemilkos runzelte die Stirn. Eine dicke Ader schwoll an seiner Schläfe an. »Seine Ohren waren in der Tat ungewöhnlich. Sie waren nicht spitz, sondern eckig, so als hätte man sie abgeschnitten. Ich hoffe für dich, daß du jetzt eine Geschichte zu erzählen hast, die mich deine hochfahrende Rede vergessen läßt.«
Archelaos lächelte triumphierend. »Hätte der Gott, von dem du sprachst, spitze Ohren gehabt, so wäre es Anubis gewesen. Er hat den Kopf eines Schakals und geleitet die Toten hinab in das Reich des Osiris. Die seltsamen Ohren aber, die du beschrieben hast, gehören zu Seth, dem Gott der Zerstörung, dem Wächter in der Barke der Millionen Jahre und dem Mörder des Osiris. Seth ist der Schutzherr Berenikes. Wenn du ihn in deiner Vision gesehen hast, dann erübrigen sich alle anderen Fragen an die Priesterin, Azemilkos. Sie steht auf seiten der neuen Herrscherin, und wir können ihr trauen.«