Hophra machte erneut einen Ausfall und trieb Philippos mit einer ganzen Serie von Schlägen vor sich her. Erst im allerletzten Moment durchschaute der Grieche die heimtückische Absicht, die hinter den Attacken steckte. Der Ägypter wollte ihn bis gegen eine der Wände des engen Hofes zurücktreiben, so daß er keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, den Angriffen auszuweichen. Mit einem Satz tauchte der Grieche unter der Klinge des Söldners hinweg, rollte sich über seine Schulter ab und kam hinter dem Ägypter wieder auf die Beine. Ein stechender Schmerz pochte in seiner linken Schulter. Er mußte sich einen Muskel gezerrt haben. Philippos biß die Zähne zusammen und fluchte leise vor sich hin. Er war nicht mehr in Übung! Noch vor zwei Jahren wäre ihm das nicht passiert.
»Nicht schlecht, alter Mann!« Hophra hatte sich umgedreht und zielte mit der Spitze seines Schwertes auf die Kehle des Griechen. »Wärst du ein wenig schneller gewesen, hättest du sogar einen Schlag in meinen ungedeckten Rücken landen können.«
Philippos verzichtete auf eine Antwort. Sein Atem ging jetzt keuchend. Er mußte angreifen! Lange würde er der überlegenen Geschwindigkeit des Jüngeren nicht mehr standhalten.
Wieder umkreisten die beiden einander. Verzweifelt spähte der Grieche auf eine Lücke in der Deckung des Ägypters, doch der Krieger gab sich keine Blöße. Er hielt den Schwertarm leicht angewinkelt, so daß die Spitze der Waffe ständig auf die Kehle des Arztes zeigte.
Philippos starrte über den schimmernden Stahl hinweg in das Gesicht des Ägypters. Den meisten Männern konnte man es kurz vorher ansehen, wenn sie angreifen wollten. Ihre Augen glänzten dann einen Moment lang, und sie preßten die Lippen aufeinander. Hophra war ein guter Krieger, doch diese verräterische Eigenschaft hatte er noch nicht abgelegt.
Der Ägypter lachte breit und zeigte seine strahlend weißen Zähne. »Deine Lungen pfeifen wie der Blasebalg eines Schmiedes. Es geht wohl zu Ende!«
Jetzt war es soweit! Philippos konnte Hophra förmlich ansehen, wie sich sein ganzer Körper spannte. Das Schwert schoß hoch und sauste schon im nächsten Augenblick zu einem vernichtenden Schlag wieder hinab. Statt auszuweichen, machte der Grieche einen Satz nach vorne und unterlief die Waffe des Söldners. Er riß die Linke hoch und schlug mit seinem notdürftig gepanzerten Arm das Schwert zur Seite. Im selben Moment zuckte sein Gladius vor, um dem Krieger die Eingeweide zu zerschneiden.
Hophra wich taumelnd zurück. Doch er war nicht schnell genug! Mit einem reißenden Geräusch durchschnitt die Klinge den zähen Leinenpanzer. Tänzelnd drehte sich der Ägypter halb um Philippos herum und verpaßte ihm mit dem ganzen Schwung der Drehung einen Tritt in die Kniekehle. Der Grieche stöhnte vor Schmerz laut auf. Sein rechtes Bein knickte unter ihm weg. Etwas Kaltes legte sich auf seinen Hals. Es war die Schneide von Hophras Schwert.
»Das Spiel ist aus!« Der Ägypter preßte sich die Linke auf den Bauch. Blut sickerte durch den weißen Leinenpanzer.
»Genug!« ertönte über ihnen eine schrille Stimme. Philippos blickte zum gegenüberliegenden Flachdach empor. Ein dicker junger Mann, flankiert von zwei Fackelträgern, stand an der niedrigen Mauer, die das Dach säumte, und winkte hektisch mit den Armen. »Es genügt! Ich denke, es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der Grieche nicht gelogen hat. So wie er kämpft, ist er tatsächlich ein Söldner! Oder bist du anderer Meinung, Hophra?«
Der Ägypter hob seine blutverschmierte Linke und streckte sie dem Mann auf dem Dach entgegen. »Wie du siehst, versteht er es sehr wohl, seine Klinge zu führen, Herr.«
»Soll ich nach Chelbes schicken lassen? Brauchst du einen Heilkundigen? Bei Melkart, du hättest es nicht so weit mit ihm treiben dürfen.«
Der Söldner schüttelte den Kopf. »Das ist nur eine Schramme. Nichts von Bedeutung.« Er nahm seine Klinge vom Hals des Arztes und streckte Philippos die Hand entgegen. »Ich hoffe, du kannst noch laufen.«
Der Grieche biß die Zähne aufeinander und stemmte sich hoch. Am liebsten hätte er dem Ägypter eine patzige Antwort gegeben, doch zumindest für den Augenblick war es wohl klüger, den Mund zu halten. Er zwang sich zu einem Lächeln. »So wie es aussieht, werden Hades und Anubis wohl noch ein Weilchen auf uns warten müssen.«
16. KAPITEL
Samu erwachte von einem Geräusch, das wie ein vielstimmiger Aufschrei klang. Sie fühlte sich ungewöhnlich benommen. Ihr Kopf war schwer, und als sie versuchte, aufzustehen, war es fast so, als drücke sie eine weiche, riesige Hand auf ihre Kline nieder. So stark war dieser Widerstand, daß es ihr beim ersten Versuch unmöglich war, sich zu erheben. Sie hatte nicht die Kraft, ihren Willen in Taten umzusetzen.
Langsam begannen ihre Gedanken, klarer zu werden. Im weitläufigen Haus des Kaufmanns konnte sie jetzt deutlich das Murmeln vieler Stimmen wahrnehmen. Der ganze Palast schien voller Menschen zu sein!
Der bittere Geschmack von Kräutern füllte ihren Mund. Auf ihrer Zunge war ein widerlicher, pelziger Belag. Sie mußte trinken! Ihre Augen tasteten durch den Raum. Selbst den Kopf zu drehen, war eine Anstrengung, die beinahe über die Grenzen ihrer Willenskraft hinausging. Sie hatte auf dem Schminktisch eine kleine Öllampe brennen lassen. In letzter Zeit konnte sie nicht mehr in völliger Finsternis schlafen. Zu oft hatte sie ihr Lager seit der Flucht des Pharaos aus Alexandria gewechselt. Manchmal wachte sie nachts auf und konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie war. Selbst wenn das Licht brannte, brauchte sie ein oder zwei Atemzüge lang, um sich bewußt zu werden, an welchem Ort sie sich aufhielt und wie sie dorthin gelangt war.
Auf dem Schminktisch standen ein kleiner Krug voller Quellwasser und eine flache Schale. Sie sollte trinken, um den üblen Geschmack loszuwerden. Wieder lauschte sie auf die Geräusche im Haus. Elagabal hatte ihr nichts davon gesagt, daß er noch Gäste erwartete. Oder konnte sie sich nur nicht mehr erinnern?
Samu versuchte, in Gedanken die Ereignisse des vergangenen Tages zu ordnen. Sie erschienen ihr seltsam entrückt, so als seien sie nicht erst vor ein paar Stunden, sondern vor langer Zeit geschehen.
Da war der Schatten ... Die Amphore, die dicht neben ihr auf das Pflaster geschlagen war und sie beinahe getötet hätte.
Und Hophra! Hophra, der mit den Lastenträgern gesprochen hatte. Hophra, der verschwunden war, als der Unfall geschah, aber fast sofort danach wieder an ihrer Seite war. War das ein Zufall?
Sie war in einer Sänfte in den Tempel des Eshmun gebracht worden. Ein freundlicher glatzköpfiger Priester hatte sich dort ihrer angenommen. Der Mann hatte eine schwer zu beschreibende Aura gehabt. Schon im ersten Augenblick, in dem sie einander begegneten, hatte Samu gewußt, daß der Priester ein guter Heilkundiger war und daß sie ihm vertrauen konnte. Aber da war noch etwas an ihm . Er hatte Macht! Es war jedoch nicht die Welt der Magie, in der er ein Herrscher war, so wie man es bei einem Heilkundigen vielleicht erwarten mochte. Er hatte die Macht, über Menschen zu gebieten. Sie würden seinen Worten folgen, ohne daß es dazu einer äußerlichen, aufgesetzten Autorität bedurft hätte. So wie er sollten Könige sein, dachte Samu.
Ihre Verletzungen waren kaum der Rede wert. Sie hatte eine Schnittwunde am Arm abbekommen, die zwar stark blutete, aber zum Glück nicht sehr tief war. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal eine Narbe von ihr zurückbehalten. Ansonsten war ihr Körper übersät von Prellungen durch die Splitter der Amphore, die sie getroffen hatten. Es war fast schon ein Wunder, daß ihr nicht mehr geschehen war. Samu erinnerte sich gut an die scharfkantigen Tonscherben, die um sie herum auf dem Pflaster gelegen hatten. Mit etwas Pech, wenn ihr die Splitter ins Gesicht geschlagen wären, hätte sie ihr Leben lang entstellt sein können.