Nach ungefähr vierzig Stufen mündete die Treppe in ein Gewölbe, das so aussah, als ginge es auf eine Höhle zurück, die später künstlich erweitert worden war. Am Ende des länglichen Raumes befand sich eine Nische, in der vielleicht einst eine Götterstatue gestanden hatte. Samu spürte deutlich die mächtige Aura dieses Ortes. Die magischen Kräfte, die längst vergessene Priester hier einst beschworen hatten, schienen der Ägypterin noch immer präsent. Samu spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Ein Schaudern überlief sie. Es wäre besser, wenn sie an diesem Ort nicht zu lange verweilte! Hastig schlug sie ein Schutzzeichen gegen Daimonen und sah sich dann nach den Kisten um, die ordentlich aufgereiht an einer der Längswände des Gewölbes standen.
Die hölzernen Kisten hatten keine Deckel und waren durch schmale Brettchen in Fächer unterteilt, in denen sich Tontafeln stapelten. Neugierig machte sich Samu daran, die Schriftstücke zu studieren, und war schon bald überrascht, welchen Umfang die geheimen Aktivitäten des Kaufmanns annahmen.
So gab es Verträge mit verschiedenen Piraten, in denen Elagabals Schiffen freies Geleit zugesichert wurde. Auf der anderen Seite wiederum schien der Vater des Kaufmanns Pompeius bei seinem Feldzug gegen die Piraten unterstützt zu haben.
Es gab Handelsabkommen, die das Vorkaufrecht auf bestimmte Waren sicherten, und Absprachen, die dazu dienten, Kaufleute, deren Namen Samu nicht kannte, in die Isolation und schließlich in den Ruin zu treiben. Doch so sehr sie auch suchte, sie fand nichts über den Einkauf der Geschenke, die an den Hof des Ptolemaios gebracht worden waren, keine Anweisungen an den Kapitän Oiagros, aus denen sich ableiten ließ, daß ein Mordanschlag geplant war. Der einzige Beweis, den sie nach wie vor hatte, war die Äußerung Elagabals über die Fahrt nach Ephesos. Hatte der Kaufmann vielleicht etwas geahnt und alle Spuren verwischt? Samus Blick glitt über die lange Reihe der Kisten mit den Tontafeln. Nein, der Phönizier dachte gar nicht daran, Spuren zu verwischen. Er war ein Pedant! Über alle zwielichtigen Geschäfte und Schurkereien seines jungen Lebens hatte er sorgfältig Buch geführt.
Ein Geräusch auf der Treppe ließ Samu herumfahren. Intuitiv zuckte ihre Hand zu dem Dolch, den sie unter ihrem Gewand verborgen trug.
Auf der Treppe stand Hophra. In der Rechten hielt er eine fast verloschene Fackel. Seine Linke lag auf dem Knauf des langen Reiterschwertes, das er umgegürtet hatte. Im unsteten Licht wirkte das Gorgonenhaupt auf seinem weißen Leinenpanzer seltsam lebendig. Es grinste nicht nur, es schien Samu geradezu auszulachen. Die Priesterin stand wie versteinert da und starrte den Söldner an.
»Hattest du genug Zeit, um zu finden, was du suchst, meine Liebe?« Der Krieger lächelte, doch seine Augen blieben kalt.
»Du mußt wissen, daß ich kein Verräter bin, Philippos. Ich konnte einfach nicht ...« Abimilku brach mitten im Satz ab und starrte auf das nächtliche Meer. Der Schiffer hatte Philippos nach den Kampfübungen gebeten, mit ihm zu kommen. Die beiden hatten an einer einsamen Stelle die Stadtmauer erklommen, um sich dort, weitab neugieriger Lauscher, auszusprechen.
Der Grieche hatte am Morgen nach der Prüfung seine Sachen zusammengeschnürt und war in das Haus des Judäers zurückgekehrt. Seit er in die Verschwörung gegen Marcus Antonius eingeweiht worden war, mußte er nicht mehr unter einem Dach mit Abimilku wohnen. Er war nicht mehr auf den Kapitän angewiesen! Jetzt kannte er bedeutendere Männer und konnte auf anderen Wegen nachforschen, wer in den Anschlag auf Ptolemaios verwickelt war. Obwohl er selbst ein Spitzel gewesen war, fühlte er sich durch den Taucher mißbraucht und verletzt. Er hatte für den Mann echte Freundschaft empfunden. Er hatte ihm den Arm, ja vielleicht sogar das Leben gerettet, und dann das .
»Es tut mir leid, Philippos. Behandle mich nicht wie einen Schurken. Kannst du mich denn nicht verstehen? Ich mußte zwischen meiner Treue zu dir und meiner Stadt wählen. Ich habe es mir dabei wirklich nicht leichtgemacht .«
»Bist du sicher, daß du diesen Gedanken wirklich bis zum Ende geführt hast? Du glaubst, deiner Stadt einen Dienst zu erweisen?« Philippos mußte vorsichtig sein. Er wollte, daß sich Abimilku über die Konsequenzen, die eine Rebellion in Tyros haben würde, im klaren war. Gleichzeitig hatte der Grieche aber auch Angst davor, sich wieder als Spitzel verdächtig zu machen. Er durfte nicht zu offen Partei gegen die Verschwörer ergreifen. Vielleicht sollte er das Gespräch auch einfach beenden? Was interessierte ihn das Schicksal dieser Menschen? Er sollte nicht sentimental sein . Schließlich hatte er nur ein paar Tage mit ihnen unter einem Dach gelebt! Vor seinem geistigen Auge sah er das brennende Tyros, sah plündernde römische Soldaten durch die Straßen stürmen. Philippos ballte die Fäuste. Er mußte an Abimilkus Frau und deren Kinder denken. Und er wußte, was mit ihnen geschehen würde.
»Natürlich erweise ich meiner Stadt einen guten Dienst«, entgegnete der Seemann nach längerem Schweigen trotzig. »Ich diene meinen Göttern. Azemilkos, der Hohepriester des Melkart, hatte eine Vision. Er hat gesehen, daß die Königin Ägyptens von Alexandrien bis Pergamon herrschen wird und daß die mächtigsten Römer ihr zu Füßen liegen werden. Die Götter selbst werden sich gegen die fremden Eroberer und ihre Vasallen erheben. Weißt du, überall erzählt man sich Geschichten davon, wie sich die Artemis von Ephesos gegen den Pharao empört hat, der in ihrem Hause Zuflucht suchte. In ihrem Zorn hat sie den Mundschenk und die Geliebte des Herrschers zerschmettert. Genauso wird es den Römern ergehen, wenn sie Melkart beleidigen! Es heißt, dieser Reitergeneral wolle kommen und in seinem Stolz Melkart herausfordern. Angeblich will er sogar in Waffen das Haus des Gottes betreten. Warum sollten wir ihm gestatten, was wir selbst dem großen Alexander verwehrt haben?«
»Habt ihr letzten Endes verhindern können, daß Alexander den Tempel des Gottes betreten hat? Welchen Preis habt ihr für euren Stolz gezahlt? Tyros wurde niedergebrannt. Alexander hat bewiesen, daß er selbst fast ein Gott ist, indem er die Insel für immer mit dem Festland verbunden hat und euch einen eurer Häfen stahl! Wo war Melkart, als der Makedone die Frauen und Kinder von Tyros in die Sklaverei verkaufte?«
»Vorsicht, Grieche! Ich wollte mich bei dir entschuldigen und mit dir Freundschaft schließen, doch ich werde nicht dulden, daß du meinen Gott beleidigst! Melkart hat nichts von seiner Macht verloren. Er hat Alexander das verzehrende Fieber geschickt, das ihn dahingerafft hat. Melkart ist das Licht und das Feuer! Und ein Feuer war es, das den Makedonen von innen heraus aufgezehrt hat!«
»Verstehe mich nicht falsch! Ich bin Söldner und habe bisher meinen Dienstherren immer die Treue gehalten«, beteuerte der Arzt. »Doch habe ich sie auch alle im Kampf gegen Rom untergehen sehen. Im Zweifelsfall werde ich der Letzte sein, der auf den Mauern über einer brennenden Stadt noch gegen die Römer weiterkämpft. Doch ich habe es auch viel leichter mit meiner Entscheidung, denn ich muß nur an mich denken, Abimilku. Ich habe keine Frau und keine Kinder, die für meinen Stolz vielleicht mit einem Leben in Sklaverei bezahlen müssen. Doch genug jetzt davon!« Philippos streckte dem Kapitän seine Hand entgegen. »Ich weiß, in welchem Zwiespalt du gesteckt hast, und ich werde dir verzeihen, daß du das Gastrecht verraten hast, um mich der Liebe zu deiner Stadt zu opfern.«
»Danke.« Die Stimme des Tauchers war kaum mehr als ein Flüstern. Er ergriff die Hand des Griechen, um ihre Freundschaft aufs neue zu besiegeln. »Laß uns nun gehen! Die Stunde der Morgendämmerung ist nicht mehr fern, und ich sehne mich nach der zarten Umarmung meiner Frau.« Abimilku lächelte verlegen. »Du mußt wissen, sie war in den letzten Tagen wegen meiner Verletzung sehr zurückhaltend.«