»Nun kannst du mich in meiner ganzen Schmach sehen!« rief Lydia. Obwohl es nur derselbe schwache, ekzemartige Ausschlag war traten ihr Tränen in die Augen. »Kann ich mich in der Öffentlichkeit sehen lassen, ohne daß man mich verhöhnt? Bist du nicht entsetzt?«
»Nicht im geringsten«, erwiderte er lächelnd und zwang sie, ihn anzusehen.
Doch schluchzend kehrte sie sich wieder von ihm ab. »Gestern nacht«, murmelte sie, »als diese Kreatur - oh, abscheulich! - andeutete, ich hatte die Franzosenkrankheit, hätte ich vor Schmach sterben können. Oh, sie hat es schon öfter gesagt. Aber wie hätte ich mir diese Krankheit holen können? Gott ist mein Zeuge, daß ich niemals . Aber die Angst will nicht weichen.«
»Lydia!« sagte er scharf. Er legte ihr die Hände auf die bloßen Schultern und zog sie fast in eine sitzende Stellung. »Du hast gesagt, du habest Vertrauen zu mir. Nun sieh mich mal an.« Obgleich er seine Hände fallen ließ, sank sie nicht in die Kissen zurück. Doch ihr Gesicht wollte sie ihm noch immer nicht zuwenden.
»Du hast nicht die Krankheit, die du vermutest. Überhaupt keine auf natürlichen Ursachen beruhende Krankheit. Ich kann dich in einem Tage oder noch eher heilen.« Fenton lachte. »Nun will ich dir beweisen, daß ich die Symptome kenne. Leidest du nicht manchmal unter heftigem Durst?«
»Ich - ich habe so viel Gerstensaft getrunken, daß ich beinahe platze. Aber woher weißt du das denn?«
»Und hast du nicht auch häufig«, fragte er, indem er ihre Waden berührte, »an dieser Stelle Schmerzen?«
Lydia blickte ihn an. Ihr Ausdruck grenzte fast an Ehrfurcht. »Und wenn du getrunken und gegessen hast -sagen wir mal, eine Viertelstunde später -, verspürst du da nicht gelegentlich starke Magenschmerzen mit heftigem Brechreiz?«
»O ja! Fürwahr, dir scheinen alle Anzeichen vertraut zu sein. Aber was .?«
Er fürchtete sich, ihre Frage zu beantworten, aber es blieb ihm keine Wahl.
»Lydia, irgend jemand versucht, dich ganz langsam mit Arsenik zu vergiften.«
IV
Seine Furcht war begründet. Für Lydia, wie für die meisten anderen Menschen, hatte schon das Wort »Gift« einen schaurigen, mysteriösen Klang. Es verging eine geraume Weile, bis Fenton sie wieder beruhigen konnte. »Dann werde ich nicht. sterben?«
»Aber nein! Fühlst du dich wie eine todkranke Frau?«
»Behüte! Nein!« Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Nur ein wenig indisponiert, weiter nichts.«
»Das kommt daher, weil der Giftmischer dir zu geringe Dosen in zu großen Zwischenräumen verabfolgt hat. Wenn du nur den Trank nimmst, den ich dir verschreibe, hast du nichts zu befürchten.«
Lydia fuhr sich mit der Hand an die Stirn. »Und diese -diese Pusteln .?«
»Werden vollständig verschwinden. Es sind die Symptome einer Arsenvergiftung.«
»Aber wer könnte denn danach trachten .?«
»Davon sprechen wir ein anderes Mal«, sagte er. »Zuerst müssen wir dich kurieren.«
Lydia, die sich im Überschwang der Freude und Erleichterung über eine so nebensächliche Person wie einen Mörder nicht den Kopf zerbrechen konnte, war völlig in den Anblick ihres Mannes versunken, und ihr ganzes Wesen beruhigte sich. Fenton versuchte, ihr in möglichst einfachen Worten das Gift und seine Wirkung zu erklären, obwohl er wußte, daß sie es nicht verstehen würde; selbst die Akademie der Wissenschaften würde es nicht verstehen. In der vergangenen Nacht hatte er bemerkt, daß Lydia eine sehr hübsche Figur hatte. In ihrem gegenwärtigen Bekleidungszustand trat diese Tatsache deutlich in Erscheinung.
»Diese Ammenmärchen«, sagte er, »von dem Blut einer Fledermaus, den Eingeweiden einer Kröte und anderen ekelhaften, aber völlig unschädlichen Substanzen erschienen allmählich lächerlich im Licht. im Licht.« Er hielt inne. »Verzeihung, was sagte ich doch noch?«
»Liebster«, versicherte ihm Lydia zärtlich, obwohl ein wenig rot im Gesicht, »du hattest nur Augen für .«
»Ja, fürwahr. Wahrhaftig. Ganz in Gedanken .« Fenton glitt vom Bettrand herunter.
»Ich empfinde es aber nicht als unangenehm«, sagte Lydia. Fenton machte eine letzte Anstrengung, väterlich zu sein. Er trat zum Kopfende des Bettes, beugte sich zu Lydia herab und küßte sie leicht auf die Lippen. Dann aber war es vorbei mit aller Selbstbeherrschung. Lydias Arme umschlangen leidenschaftlich seinen Hals oder vielmehr die vermaledeite Perücke. Er bog ihren Kopf zurück und küßte sie auf eine Weise, die sich wohl als innig bezeichnen ließ.
»Nick«, murmelte sie nach einer Weile dicht an seinem Mund. »Ja - ja?«
»Als du mir zuerst gebotest, mich niederzulegen, habe ich dieselben Gedanken gehabt wie Giles. Dann überlegte ich mir: hier?. so öffentlich?. wo so viele Leute in der Nähe sind?.«
»Ich weiß.«
»Soll unser wahres Rendezvous heute abend stattfinden?« Das war Unsinn - völliger Unsinn für eine Frau, die noch unter Vergiftungserscheinungen litt. Aber Fenton war auf dem besten Wege, den Kopf zu verlieren.
»Heute abend, Lydia, bist du vielleicht nicht in der richtigen Stimmung für so etwas.«
»Ich könnte dich lieben«, murmelte sie, »selbst wenn ich im Sterben läge. Liege ich etwa im Sterben?«
»Nein! In Dreiteufelsnamen nein!«
»Werde ich dann heute nacht deine Gesellschaft haben?«
»Ja!« Er schloß sie fest in die Arme. Und - so will es die Natur nun einmal - Lydias Haut erschien ihm nicht mehr im geringsten kalt oder klamm. Der Kuß hatte einen solchen Grad von Leidenschaftlichkeit erreicht, daß beide es für töricht und überflüssig hielten, das Rendezvous zu verschieben.
Giles war indessen eifrig bemüht, die Stellung im Flur zu halten, doch gerade in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Meg fegte ins Zimmer.
In Sir Nick brachen unmittelbar die alten Gefühle für sie durch. Fenton, wenn auch ein wenig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht, kannte eine andere Empfindung. Es war der Zorn, der sein Augenlicht langsam verdunkelte.
Nach einem kurzen Blick hinter die zurückgebundenen Bettvorhänge wandte Meg den Kopf zur Seite und schritt langsam durch das Zimmer zu den Fenstern, um zu überlegen, wie sie mit dieser Situation fertig werden sollte. Ihre Arme zitterten ein wenig. Lydia selbst spürte nicht die geringste Verlegenheit. Schon ehe Meg ihr einen Blick zuwarf, war es ihr gelungen, die Bettdecken so zu ordnen, daß sie noch weniger bekleidet zu sein schien, als es in Wirklichkeit der Fall war.
»Ihr wollt uns also beehren, Madam?« fragte Fenton in recht bissigem Ton.
»Meiner Treu, Ihr habt's erraten«, erwiderte Meg kühl. Die stolze Gestalt am Fenster wandte sich den beiden zu. Meg trug einen schwarzen Strohhut mit sehr breiter Krempe, die sie zwang, den Kopf hochzuhalten. Auf dieser nach hinten leicht aufgebogenen Krempe lag eine einzige goldene Feder. Noch nie hatte sich ihr schattenhaft weißer Teint so lebhaft von dem glänzendschwarzen Haar abgehoben.
Trotz des warmen Wetters trug sie einen kurzen schwarzen Pelzüberwurf, der ihr nur bis zum Ellbogen reichte. Er war nicht geschlossen und ließ ein sehr tief ausgeschnittenes Miedersehen. Ihr an der rechten Hüfte befestigtes Handtäschchen war mit Gold bestäubt und mit einem Kreis von Rubinen verziert. Beide Hände steckten in einem schwarzen Pelzmuff, wie es die Mode vorschrieb.
»Nick, Verehrtester«, sagte Meg von oben herab, »ich habe mir Eure Karosse für heute morgen bestellt. Ich weiß, Ihr werdet mir das nicht abschlagen.«
»Meint Ihr, Madam?«
Meg hatte offenbar beschlossen, so zu tun, als ob Lydia gar nicht existierte. Lydia gab ebenfalls vor, uninteressiert zu sein. Sie blickte mit verträumten Augen und einem leisen Lächeln vor sich hin. Doch Meg konnte es sich nicht versagen - es ging wider die menschliche Natur-, einen kurzen wütenden Blick auf sie zu werfen.