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Unter normalen Umständen wäre es schwierig, ja, fast unmöglich gewesen, die Straße zu überqueren. Aber ein schwerer Brauereiwagen, von zwei flandrischen Mähren gezogen, hatte sich in einen in dieselbe Richtung rollenden Gemüsekarren festgefahren. Die Kutscher fluchten und bearbeiteten sich gegenseitig mit ihren Peitschen. Ein langer, mit schweren Gerstensäcken beladener Wagen und zwei Sänften - die Sänftenträger schienen höchst amüsiert - blieben kurz stehen, um die Prügelei zu beobachten. Dadurch gelang es Narbengesicht, auf die andere Seite zu kommen, gerade als sich die Räder mit einem gewaltigen Krach voneinander lösten. Die Fahrzeuge rollten wieder ungehindert weiter, als Sir Nick folgen wollte, und er mußte zurückbleiben. George hatte sich inzwischen an die Backsteinmauer gesetzt, um wieder zu Atem zu kommen. Doch als die beiden anderen die Gasse hinaufrannten, sprang er, federnd wie ein Gummiball, auf die Füße. Er hob Narbengesichts Zähne auf und steckte sie, offenbar als ein Souvenir, in die Tasche. Dann rannte er den anderen mit unerwarteter Behendigkeit nach.

Als er durch den Bogengang stürzte, hielt er nur inne, um dem toten Mann den Hut mit der grünen Rosette vom Kopf zu reißen und ihn zerknüllt in dieselbe große Tasche zu stopfen. Sir Nicks staubige Perücke mit dem daran befestigten Hut hob er ebenfalls auf und bürstete beides ab, als er durch den Bogen auf die Straße trat.

Dort fand er seinen Freund, der stampfend und tobend vor einer endlosen Kette von Fahrzeugen stand.

»Dieser verwünschte Hund«, würgte Sir Nick hervor, »ist mir entronnen. Wie kann ich ihn jetzt nur finden?«

»Unmöglich, Nick!«

Während er seinem Gefährten die Perücke mir nichts, dir nichts über den Kopf stülpte, versuchte George, ihn zu beruhigen. »Nick«, sagte er, »da drüben sind Dutzende von winkligen Gassen und Gäßchen - hörst du zu, Nick? -, durch die er nach Alsatia zurückschlüpfen kann. Dort angelangt, ist der Schurke in Sicherheit.«

»Weil es ein Asyl ist?«

»Mehr als das, Nick. Potztausend! Keine Bürgerwehrtruppe - nicht einmal eine Kompanie Soldaten mit Steinschloßgewehren - darf sich dort hineinwagen!«

»Aber hier ist einer, der's riskiert!«

»Nein, Nick«, sagte George in aller Ruhe, »das lasse ich nicht zu.«

»Und wie willst du es verhindern?«

»So!« sagte George. Mit diesen Worten trat er hinter seinen Freund und umschloß ihn wie ein Ringer mit seinen Armen. »Laß mich los! Kruzitürken!«

Sir Nick versuchte, sich aus dem Griff zu lösen, aber es gelang ihm nicht. Als sie auf dem Pflaster herumwirbelten und ab und zu gegen die Häuserwand prallten, bekundete niemand das geringste Interesse für diese Balgerei.

Mindestens ein Bettler sah die dicke, von Sir Nicks schwerer Geldkatze verursachte Ausbuchtung in seiner Tasche. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er die Tasche mit dem Messer so leicht aufschlitzen können, daß der Geldsack unbemerkt in seine Hand gefallen wäre. Aber selbst dieser Geldgierige hielt sich zurück; nicht einmal die Straßenjungen mucksten sich.

Wenn sie einen Mann von Stand mit blutigem Schwert und blutbefleckten Händen sahen, der schweigend und grimmig mit einem Standesgenossen rang, dann war das eine ernste Angelegenheit. Die Hand des Henkers war zu deutlich spürbar. Ein Schutzmann sah es und verschwand sofort. Nur ein Friedensrichter - dies waren meist strenge, unbeugsame Männer - hätte sich einzumischen gewagt.

»Nein!« keuchte George. »Bei Gott, Nick, ich halte dich fest, bis sich dein Mütchen gekühlt hat und die Vapeurs verschwunden sind!«

»Meinst du?« keuchte Sir Nick und riß einen Arm los. Doch George umklammerte ihn sofort wieder. Gemeinsam gerieten sie in die gefährliche Nähe der krachenden Räder, taumelten zurück, kehrten wieder um, bis Sir Nick mit dem linken Bein gegen etwas stieß.

Das einzige Wesen, das sich in ihre Nähe gewagt hatte, war ein sehr junger, in Lumpen gehüllter Schuhputzer, der sein flaches Blechgefäß mit der Mischung aus Ruß und ranzigem Öl vor sich hertrug. Sir Nicks Knie schleuderte ihn zu Boden, so daß die Ruß- und Ölmischung über den Straßenrand in die Gosse floß.

»Na, na«, sagte Sir Nick sanft. Seine Arme wurden schlaff. George, der ihn herumschwang, sah, daß er von Gewissensbissen gepeinigt war. »Ich hab's nicht bös gemeint. Wahrhaftig, ich hab's nicht bös gemeint.«

George ließ ihn gänzlich los, und Sir Nick kniete nieder, um dem erschrockenen, schwarzgesichtigen Knirps auf die Beine zu helfen. »Hier - hier ist etwas Geld. Da, nimm eine Handvoll. Es gehört dir.«

Er drückte dem Jungen die Münzen in die Hand und richtete sich langsam wieder auf. Mit schwankenden Knien torkelte er davon und lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand. Mit einem Arm verdeckte er die Augen und verharrte so eine ganze Weile. Dann ließ er den Arm wieder sinken. »Hm - George«, sagte er.

Lord George Harwell fuhr so zusammen, daß er fast in die Höhe sprang, und eine abergläubische Furcht durchrieselte ihn.

Es war eine andere Stimme, eine gänzlich andere Stimme als die des alten Nick. Nein, halt! Es war dieselbe ernste, höfliche, freundliche Stimme - in Nicks Tonfall, aber an die eines älteren Philosophen erinnernd -, die ihn schon den ganzen Tag verblüfft hatte, bis sie sich im Apothekerladen auf einmal änderte. »Wie kommen wir plötzlich hierher?« fragte die Stimme. »Wie ich mich entsinne, habe ich mich im Apothekerladen ein klein wenig echauffiert über dich - über irgendeine Bagatelle -, und seitdem kann ich mich an nichts mehr erinnern.«

Professor Fenton öffnete die Augen und blickte umher. Er fühlte sich schwach, als hätte er ein böses Erlebnis hinter sich. George hätte brennend gern gebetet. Aber ihm fiel nur das Gebet für die Sterbenden ein, und das schien hier nicht am Platz zu sein.

»Ei nun!« rief er mit erheuchelter Herzlichkeit. »Es sind knapp zehn Minuten seitdem verstrichen.«

»Zehn Minuten!« wiederholte Fenton.

Sein wandernder Blick flog zu den überhängenden Giebeln auf der anderen Straßenseite. Wie vorher, waren die beiden Flügel eines Fensters geöffnet. Die hübsche, zerzauste Schlampe stützte jetzt müßig beide Ellbogen auf den Fenstersims und hatte noch nicht einmal ihren Krug Bier geleert.

»Nun«, berichtete George in besänftigendem Ton, »du hast nur einen Mann getötet und einen anderen verwundet. - Ei, sieh mich nicht so an! Auch brauchst du nicht so auf deine Hände zu starren! Du wirst nicht in Haft genommen. Wenn ein Büttel Langbeins Leiche findet, wird er dankbar sein, daß jemand ihnen die Kosten des Aufknüpfens erspart hat. Freund Langbein kam aus Alsatia; sein Leben war seit langem verwirkt.«

»Aber.«

»Was du am allernötigsten brauchst, Nick, ist leibliche Nahrung«, erklärte George in herzhaftem Ton. »Potz Blitz! Komm! Keine zehn Meter von hier ist ein Speisehaus, der >Fette Kapaun<, wo man gut ißt. Hier, nimm meinen Arm; du bist ganz schlapp, Mann, und ich werde dir unterwegs alles erzählen.«

»Ja, auf jeden Fall! Aber .«

George, der zufällig nach rechts blickte, blieb unvermittelt stehen. »Sieh mal, hier kommt deine eigene Kutsche, und drin sitzt Meg York, die lächelnd ans Fenster klopft. Nick, Nick« - seine Stimme begann zu zittern – »was meinst du? Darf ich ihr wohl unter die Augen treten?«

VIII

Die Räumlichkeiten des »Fetten Kapauns« waren zwar ziemlich groß, aber qualmig und düster. Nur die rotglühenden Kohlen in dem riesigen, aus Eisen und Ziegelsteinen erbauten Kamin im Hintergrund verbreiteten etwas Helligkeit. Die lastende Hitze strömte an feuchten Wänden vorbei zum Fenster hinaus.

»Finster ist's in der Hölle«, sagte Fenton vor sich hin, als George an einem der langen schwarzen Tische einen Stuhl herauszog. Es wäre, dachte er, ein wunderbarer Platz für ein Treffen mit dem Teufel. Würde er aber dem Teufel noch einmal begegnen?