Auf dem Tisch hatte eine Kerze in einem Halter gestanden. Aber es war kein Streichholz ... vielmehr, keine Zunderbüchse vorhanden. Er konnte unmöglich bis zum Morgen hier in der Dunkelheit weilen. Wenn das, was er vermutete, aber nicht recht glauben konnte, eingetreten war, mußte noch jemand anders im Hause sein. Jemand anders. Gesichter tauchten vor seinem geistigen Auge auf.
Professor Fenton hob die Klinke und stieß die Tür auf. Wieder umfing ihn Dunkelheit. Sein Schlafzimmer lag hinten im Hause, und er mußte daher jetzt am Ende des oberen Flurs stehen, zu dessen beiden Seiten sich kleine Schlafzimmer befanden. Auf der linken Seite zeigte sich ein dünner gelber Lichtstreifen an einer Türschwelle.
Fenton schritt, allerdings auf zitternden Beinen, den Gang hinunter, der von demselben unangenehmen Geruch erfüllt war wie sein Zimmer. Als er die Tür mit dem Lichtschein erreichte, klopfte er nicht erst an, sondern hob die Klinke und öffnete die Tür ein wenig.
An der Wand gegenüber stand eine Art Ankleidetisch. Eine einzige Kerze, die in einem bemalten Porzellanhalter steckte, warf nur einen trüben Schimmer, der auf den Goldblattrahmen eines Spiegels fiel.
Jemand saß in einem Eichensessel vor diesem Spiegel, und zwar mit dem Rücken zu ihm gewandt. Aber er konnte wenig erkennen, da die schmale Rücklehne des Stuhls -aus gelbem Gewebe mit Reihen von winzigen runden Löchern - ihm sogar das Spiegelbild verdeckte.
Er wußte nur, daß es eine Frau war, da ihr langes schwarzes Haar ganz heruntergelassen und zu beiden Seiten der Lehne sichtbar war. Halt! Es war, als hätte sie ihn erwartet. Bei dem Knarren der sich öffnenden Tür fuhr sie nicht zusammen. Während einer Sekunde fürchtete er sich, ihr Gesicht zu sehen. Die letzte Schranke würde sich dann schließen zwischen seinem eigenen Leben und einem Dasein, das mehr als 250 Jahre zurücklag.
Doch die Frau ließ ihm keine Zeit. Sie erhob sich, schob den Stuhl ganz zur Seite und drehte sich um, so daß sie ihm gegenüberstand. Sekundenlang vermochte er sie nur bestürzt anzustarren. »Mary!« rief er dann.
II
»Nick«, antwortete die Frau, und ein seltsamer Ton lag in diesem einen Wort.
Der Klang seiner eigenen Stimme raubte ihm alle Kraft. Er konnte die Frau nur anstarren. Mary Grenville hatte ihn nie in ihrem Leben Nick genannt. Und doch war es ihre Stimme - trotz der merkwürdigen Modulation. Trotz anderer Unterschiede - von feinen bis zu . nun, schockierenden - spürte er, daß es Mary war. Da er sie stets weit überragt hatte, brachte es ihn ziemlich aus der Fassung, daß sie jetzt nur um einen halben Kopf kleiner war als er. Nein, halt! Seine eigene Größe mußte nun etwa ein Meter siebenundsechzig sein, und sie war kein Kind! In keiner Beziehung! Professor Fenton war bestürzt, daß er die offensichtlichen Merkmale wahrnahm, die darauf hindeuteten, daß sie kein Kind mehr war.
Sie stand da in einem üppigen, tief ausgeschnittenen Neglige aus gelber Seide, dessen Kragen und sehr lose Ärmel mit weißem Pelz verbrämt waren. Sie hatte es nachlässig, aber eng um ihren Körper gezogen. In dem trüben Kerzenlicht schien es, als huschten rauchfarbige Schatten über ihre sehr weiße Haut. Auf einmal glaubte er alles zu verstehen.
»Mary!« sagte er in seiner üblichen modernen Ausdrucksweise. »Sie sind auch zurückversetzt worden! Die gestrige Unterhaltung habe ich nicht geträumt. Nicht aus Höflichkeit brachten Sie mir Verständnis entgegen!«
Doch seine Worte waren nicht richtig gewählt. Die ganze Koketterie, das einschmeichelnde Wesen dieser Frau waren im Nu verschwunden. Mit Furcht in den Augen wich sie zurück. »Nick!« stieß sie hervor, als bäte sie ihn, nicht zu scherzen. »Was für ein Kauderwelsch redet Ihr? Macht Eure Aufwartung nur einer anderen, wenn Ihr völlig von Sinnen seid!«
Fenton richtete sich langsam auf und machte eine tiefere und höflichere Verbeugung vor ihr, als Sir Nicholas Fenton es getan hätte.
»Wenn es Euch nicht allzusehr vexiert«, sagte er sanft, »möchte ich mich wohl mit Verlaub erklären, Madam.« Doch offenbar hatte er immer noch nicht den richtigen Ton getroffen. Die Frau atmete keuchend und spie ihn beinahe an. »Verrückt!« fauchte sie. »Diese irrsinnige Lust nach Wein und Huren hat Euch den Verstand geraubt. Mylord Rochester ist's genauso ergangen.«
Ich muß ein wahrer Teufelskerl sein, dachte Professor Fenton voller Unruhe. Aber endlich hatte er die richtige Taktik erraten. »Haltet Euer Maul!« brüllte er sie plötzlich an. »Potz Blitz! Müßt Ihr kreischen wie eine Dirne, die man auf einem Karren ausgestellt hat!«
Die winzige Flamme der Kerze flackerte unstet inmitten der lastenden, wogenden Schatten. Die Frau schüttelte das lange, seidige schwarze Haar zurück und richtete sich auf. Ihre ganze Haltung wurde schmachtend, demütig, und immer bereite Tränen traten ihr in die Augen.
»Nein, nein, verzeiht mir«, flehte sie mit weicher Stimme, obwohl er wußte, daß eine Tigerkatze in ihrer weißen Haut steckte. »Ich war ganz von Sinnen, weil Ihr mich in eine Kammer gebettet habt, die dem Gemach Eurer Frau gegenüberliegt. Liebster, ich weiß kaum noch, was ich gesagt habe.«
»Hört Ihr auf mich?« schrie Fenton, der sich in seiner neuen Rolle gut gefiel. »Bin ich trunken? Wagt Ihr, so etwas zu behaupten? Oder gar verrückt?«
»Liebster, Teuerster, ich habe doch mein Unrecht eingestanden!«
»Und ich gestehe meinerseits, daß ich keinen sehr bewundernswerten Lebenswandel geführt habe. Na, das läßt sich ändern. Aber laßt uns der Komödie halber simulieren« - hier lachte er laut -, »daß wir ganz von vorn anfangen, daß wir uns nie begegnet sind und einander nicht kennen. - Wer seid Ihr?« Ihre langen Augenwimpern hoben sich in kurzer Verwunderung und senkten sich dann wieder. Ein süßer, verstohlener Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wenn Ihr mich nicht kennt, Sir«, entgegnete sie, mit leichter Betonung des »Ihr« und »kennt«, »meiner Treu, dann kennt mich kein Mann auf Erden!«
»Daß Euch die Pest! Wie ist Euer Name?«
»Ich heiße Magdalen York, die Ihr Meg zu nennen geruht. Und wer ist >Mary<?« Magdalen York.
In Giles Collins' Manuskript war »Madam Magdalen York« ziemlich häufig erwähnt. Das Wort »Madam« bedeutete nicht unbedingt, daß sie verheiratet war, sondern bezeichnete nur eine Dame von Stand. Aber diese Frau ähnelte ihrem zeitgenössischen Bildnis kaum. Wahrscheinlich war es die Schuld des Graveurs. Sie war .
»Sir Nick«, flüsterte die Frau, die sich Meg nannte, in sanftem Schmeichelton. Sie schwebte näher an ihn heran, offenbar im Zweifel, ob sie die Arme um seinen Hals schlingen oder sich von ihm fernhalten solle. Als sie so vom Ankleidetisch hinwegglitt, sah Fenton sein neues Gesicht zum ersten Male im Spiegel. Mit langen Schritten trat er vor, hob den Kerzenhalter in die Höhe und betrachtete sich aus der Nähe. »Sapperlot!« stieß er hervor.
Diesmal hatte der Graveur gute Arbeit geleistet. Aus dem trüben Glas blickte ihm unter einem enggewundenen Kopfputz aus weißgestreifter mattbrauner Seide ein dunkelbraunes, aber nicht unschönes Gesicht mit einer langen Nase und einer dünnen schwarzen Schnurrbartlinie über einem gutmütigen Mund entgegen. »Sir Nick Fenton, geboren am 29. Dezember 1649, gestorben ...« Du liebe Güte, er konnte ja nicht mehr als sechsundzwanzig Jahre alt sein! Nur ein Jahr älter als Mar . als diese Meg. Neue, erregende Gedanken schlichen sich Professor Fenton in Gestalt von Sir Nick in den Sinn. Unter dem braunen Schlafrock, der mit scharlachroten, silberumrandeten Mohnblüten besetzt war, straffte sich sein sehniger Körper.