Hier hielt er etwas verlegen inne, weil er nie in seinem eigenen Interesse davon Gebrauch gemacht hatte. Doch er setzte sich rasch darüber hinweg.
»Sagt dem König, falls er es nicht schon weiß, daß Ihr nur Euren Verstand gebraucht und durch einen Zufall das richtige Datum getroffen habt. Erklärt ihm, daß Mylord Shaftesbury Euch zweimal Raufbolde auf den Hals gehetzt hat und Ihr seiner Aufmerksamkeiten überdrüssig geworden seid. Sagt Seiner Majestät genau, was Ihr in Wirklichkeit geäußert habt, als Ihr Eure übergeschnappten Prophezeiungen verkündetet, um Mylord gleichsam mit einem ungeheuren Schreckgespenst in Angst zu versetzen. Vor allem .«
George konnte nicht länger an sich halten.
»Vor allem«, platzte er heraus, »warum du die kühne Behauptung aufstelltest, daß dieses >papistische Komplott< in drei Jahren geschmiedet würde. Die Green-Ribbon-Leute behaupten, du habest >in drei Monaten< gesagt. Du mußt erklären, es sei alles erlogen.«
Mit einer stattlichen Geste brachte ihn Mr. Reeve zum Schweigen.
»Das ist alles, was Ihr zu tun habt«, sagte Mr. Reeve lächelnd. »Seine Majestät muß Euch gut gesonnen sein. Er war, wie ich höre, in der >Gemalten Kammer<, als Ihr gegen Shaftesbury gewettert habt. Erzählt ihm alles, und er wird über die anderen lachen . wenn ihm überhaupt nach Lachen zumute ist.«
Eine geraume Weile stand Fenton mit festgeschlossenen Augen regungslos da, während seine Hände die hohe Lehne eines Stuhles umklammert hielten. So viele Gedanken stürmten ihm durch den Kopf, daß er ganz verwirrt war. Doch über eines war er sich im klaren. Er machte die Augen auf.
»Sir«, wandte er sich an Mr. Reeve. »Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Wieso?«
»Das wage ich nicht zu erklären.«
»Wiederum muß ich Euch leise daran erinnern: möchtet Ihr im Tower schmachten?«
»Ja! Lieber als im Irrenhaus unter jaulenden Wahnsinnigen! Dort würden sie mich nämlich hinbringen. Außerdem .«
»Wir hören, Sir Nick.«
»Mein ganzes Leben lang habe ich mich mit Leib und Seele dem Studium der Geschichte gewidmet - so seltsam es in Euren Ohren klingen mag. Mir selbst erscheint es merkwürdig. Aber ich will nicht darüber spotten oder meinen Spaß damit treiben.«
»Sir Nick, was für ein wirres Zeug schwatzt Ihr da?«
»Jedes Wort, das ich zu Shaftesbury sagte, ist wahr. Ich prophezeie nicht; ich weiß es. Wollt Ihr das genaue Datum hören, an dem der König die erste Nachricht von der mythischen >Papistenverschwörung< erhält? Nun, ich will's Euch sagen: es ist der 13. August 1678.« George sprang auf die Füße; Furcht und Schrecken malten sich in seinem Antlitz. Doch der alte Mr. Reeve saß ruhig wie ein geduldiger Schulmeister da und zupfte an dem schmalen Büschel seines weißen Spitzbartes. Selbst seine rauhe, gesprungene Stimme blieb leise, als er sagte:
»Als Ihr mir vor einer Weile gütigst das Porträt zeigtet, habt Ihr wohl nicht angenommen, daß ich es erkennen würde. Ihr glaubtet sicher, ich würde nur einen alten Kavalier wie meinesgleichen darin sehen, wie?«
»Nun!« log Fenton, der spürte, daß sein Verstand jetzt von einer anderen Seite her auf die Probe gestellt wurde. »Ich erinnere mich, daß Ihr ein Freund meines Vaters wart. Doch als wir uns an jenem Abend im Wirtshaus zum >Königshaupt< begegneten, schient Ihr mich nicht zu kennen.« Mr. Reeves Augenlider senkten sich.
»Euch nicht zu kennen?« wiederholte er, und sein Blick wanderte in die Ferne. »Mein Junge, ich ritt Seite an Seite mit Eurem Vater in der Schlacht von Naseby. Prinz Rupert führe uns. Wir zerschlugen die feindliche Linie wie der Blitz einen morschen Baum . Aber das sind alte Geschichten«, fuhr er fort, »und letzten Endes haben wir die Schlacht verloren. Mein Junge, ich sah, wie das Schwert Eures Vaters, das dort an der Wand hängt, einen Hummerschwanzhelm spaltete. Am Abend, als alles vorüber war, schlichen wir zusammen abseits der Lagerfeuer umher und sahen, wie die Rundköpfe unseren Marketenderinnen die Nasen aufschlitzten .«
Wiederum hielt er mit einem Ruck inne.
»Genug davon! Aber sollte ich etwa kein Interesse für den Sohn meines Freundes haben? Was für eine seltsame Krankheit Euch befallen hat, weiß ich nicht. Aber wenn Ihr Euch nicht selber helfen wollt, werde ich es tun, das schwöre ich!« Jetzt verlor George vollständig den Kopf.
»Ihr?« rief er mit einem verächtlichen Blick auf die geflickte, armselige Kleidung des alten Mannes. »Ihr verbrauchter Säufer? Soldat und dennoch Spion? Wie könnt Ihr jemandem helfen?« Dieser Ausbruch verletzte Mr. Reeve so, daß er seine übliche Zurückhaltung vergaß.
Langsam schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich bin der Graf von Lowestoft«, sagte er, und seine Stimme klang mit schrecklicher Klarheit durch den stillen Raum.
Er bückte sich nach seinem uralten Hut und richtete sich wieder auf.
»Es ist mein angestammter Titel seit zwölf Generationen. Schurken mögen meinen Titel und meinen Besitz geraubt haben. Dennoch gehören sie mir.« Seine starke Stimme stockte und stammelte. »Ich fürchte sehr, mein junger Herr, daß alles andere, was Ihr sagtet, wahr ist. Aber es gibt noch einige, die sich an mich erinnern.«
Wiederum tastete er in dem tiefen Schweigen, das diesen Worten folgte, nach seinem Hut und fand ihn schließlich. Und jetzt passierte etwas, was den alten Mann entsetzte: Die Tränen traten ihm in die Augen und drohten die Wangen hinabzurollen. »Mit Verlaub«, sagte er und wandte hastig den Kopf zur Seite. »Ich muß Abschied nehmen.«
Fenton legte den Arm um seine Schultern und klopfte ihm verlegen auf den Rücken.
»Mylord«, sagte er mit so tiefer Höflichkeit, daß dem alten Mann fast wieder die Tränen kamen, »gestattet mir, Euch hinauszubegleiten. Die Sache mit Eurem Titel und Besitz soll geregelt werden, das verspreche ich Euch! Ob durch das Gesetz oder das Schwert- sie wird ins reine gebracht!«
»Ach nein, bemüht Euch nicht. Ich bitte Euch! Doch ist es die Wahrheit, daß ich Euch helfen kann. Ich selbst gehe nie an den Hof. Aber ich habe Freunde, die Söhne und Enkel von Freunden. Sie sagen mir alles, was vom Parlament bis zum Ratszimmer geflüstert wird. Ihr sollt alles hören, damit Ihr auf der Hut sein könnt.«
George, der wohl wußte, daß der alte Bacchus ein Mann von Rang gewesen war, und ganz unüberlegt seine Worte herausgesprudelt hatte, wurde jetzt arg von Gewissensbissen geplagt. »Halt!« rief er. »Ich wollte Euch nicht verletzen!«
»Und glaubt Ihr denn«, sagte der Achtzigjährige, der inzwischen seine Tränen gemeistert hatte und wieder lächelte, »ich hätte das nicht gewußt? Ihr seid jung, mein Freund, und verachtet alles Schwache. Ei ja, ich will dennoch mit Euch reiten. Laßt mich nur ein wenig vorgehen. Es fällt mir manchmal etwas schwer, in den Sattel zu kommen, und dessen soll nur ein Stalljunge Zeuge sein.« Mit einem »Gott sei mit Euch« stapfte Jonathan Reeve, Graf von Lowestoft, Vicomte Stowe, schwerfällig aus dem Zimmer, wieder den Tränen nahe, aber so stolz, als ob er zu einem Treffen mit Prinz Rupert eilte.
Fenton hielt den schuldbewußten und ganz zerknirschten George mit einer heftigen Geste zurück.
»Und wer bist du«, fragte Fenton, »daß du dir das Recht anmaßt, jemand einen verbrauchten Säufer zu nennen?«
»Nick, ich habe wild dahergeredet. in deinem eigenen Interesse, weil du die Gefahren nicht sehen wolltest und wie ein Tollhäusler sprachst!«
»Na schön, lassen wir die Sache ruhen«, entgegnete Fenton. »Aber neulich bei unserer Zecherei im >Schwan< hast du geschworen, Meg aufzusuchen und sie mit honigsüßen Worten zu entführen.«
»Nick, ich wollte mir nur Mut antrinken und bin dabei einen Schritt zu weit gegangen.« Fenton biß sich auf die Lippe.
»Ich . die Sache ist nicht von Wichtigkeit. aber hast du dich seitdem mit ihr in Verbindung gesetzt?«