Denn Judith wußte, daß ihre Herrin beabsichtige, ein Schauspielhaus zu besuchen, was in ihren Augen eine Sünde war. Fenton, der Lydia beim Ankleiden zusah, lehnte lässig an der Wand. Judith hätte ihn ermorden können, ohne den geringsten Gewissensbiß zu spüren. Sie und Fenton personifizierten Rundkopf und Kavalier -einen größeren Unterschied zwischen zwei Menschen konnte es nicht geben.
Schon längst hätte Fenton sie entlassen, wenn sie nicht eine so große Anhänglichkeit für Lydia besessen hätte. Als er dem Kompromiß der Diener auf ein Bad im Monat zustimmte, wußte er, daß sie nicht damit einverstanden sein würde. Und so war es auch. Daraufhin hatte er Big Tom befohlen, die Dienstboten als Zuschauer zu versammeln, dann Judith auszuziehen und sie unter die Pumpe zu halten, bis sie gründlich abgespült war. Judith hatte dann rasch nachgegeben.
Aber jetzt, wo Fenton ihre Herrin auch noch ins Schauspielhaus mitnahm, konnte sie sich nicht länger beherrschen. »Dieser Hitzkopf«, sagte sie zu Lydia in barschem Ton, wobei sie auf Fenton deutete, »führt Euch immer tiefer in den Abgrund der Lust.«
Vor drei Wochen hätte Lydia besänftigende Worte gemurmelt. Jetzt wirbelte sie herum.
»Lust«, entgegnete sie in stolzem, aber sanftem Ton, »ist etwas ganz Ausgezeichnetes. Bin ich nicht seine angetraute Frau?« Judith hob warnend den Zeigefinger.
»Ob angetraut oder nicht, Fleischeslust um des Vergnügens willen ist in den Augen des Herrn .«
»Schweigt!« sagte Fenton ruhig. Er hakte die Daumen in das Degengehenk unter seiner seidenen Weste und ging langsam auf sie zu.
»Mrs. Pamphlin«, fuhr er fort, »vor einiger Zeit hieß ich Euch, mit dem puritanischen Geplärre aufzuhören. Jetzt habt Ihr wieder begonnen. Verlaßt diesen Raum. Ihr werdet niemals wieder meiner Frau aufwarten.«
Judith Pamphlin öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Geht!« sagte Fenton.
Als sie sich zum Gehen anschickte, sah Fenton in ihren Augen, daß alle ihre Gedanken auf einen Punkt gerichtet waren: Rache gegen ihn. Fenton mußte scharf auf der Hut sein vor neuen Mördern, die sich an ihn heranschlichen.
»Es ist seltsam«, murmelte Lydia, als die Tür sich geschlossen hatte, erstaunt und zugleich ein wenig amüsiert. »Aber ich spüre überhaupt keine Gewissensbisse.« Unvermittelt drehte sie sich um und machte einen Knicks vor Fenton.
»Hm - erregt dieses Gewand dein Mißfallen?« setzte sie hinzu, und ein sehr ernster Ausdruck trat in ihre Augen. »Sollte dem so sein, werde ich es - ich schwör's -, in tausend Fetzen schneiden!«
»Alles an dir gefällt mir, Lydia.« Seine Stimme zitterte vor leidenschaftlichem Ernst. »Was du sagst, was du tust, was du denkst, was du bist! Ich . Nun, um auf deine Kleider zurückzukommen .«
»Ja?«
»Ich möchte, daß du dir so viele bestellst, wie das Haus fassen kann. Auch Juwelen, Geschmeide, Uhren - alles, was dein Herz begehrt! Wenn du das nächste Mal einkaufen gehst bei deiner Mrs. . na, wie heißt sie doch noch gleich?. Mrs. Wheebler in Covent Garden .«
Lydia wandte den Kopf zur Seite, und ein leichter Schauer überrieselte sie.
»Seit mehr als vierzehn Tagen«, entgegnete sie mit demselben leidenschaftlichen Ernst wie er, »habe ich nichts mehr bei Mrs. Wheebler gekauft. Ich gehe in die Neue Börse oder zu Madame Beautemps in Southampton Street. Ihr Laden heißt >La Belle Poitrine<. Ich - ich fürchtete, Mrs. Wheebler sei zu teuer.«
»Mach dir keine Sorgen wegen der Kosten«, sagte Fenton lächelnd. »Darf ich dich daran erinnern, Liebste, daß die Aufführung am Nachmittag und nicht am Abend stattfindet und wir uns daher sputen müssen?«
Die Whitehall-Treppen, die zum Flußufer hinabführten, waren dem Publikum zugänglich, ebenso wie die zahlreichen anderen Treppen, von denen aus man zu so vielen Plätzen an der Themse fahren konnte. Fenton führte Lydia die eichenen, am unteren Ende fast verfaulten Stufen hinunter und half ihr in ein Boot, in dessen Heck ein beleibter, jovialer Fährmann mit langen Rudern saß. »Es ist nicht gerade ein heller Tag, aber auch kein düsterer«, verkündete der Bootsmann heiter. »Ich werde Euch weit zur Flußmitte hinausrudern, um Euch vor den Rußflocken zu bewahren. Ihr sollt eine schöne Fahrt haben. Und wohin, wenn ich fragen darf?«
»Whitefriars-Treppe.«
Die bräunlichgraue Themse mit ihrem trübe glitzernden Wasser war von kleinen Fahrzeugen belebt. Manche trugen weißliche Segel. Es wehte eine leichte, kühle, reine Brise, die Lydias breiten Hut kaum bewegte. Zu ihrer Linken lagen die schweren steinernen Wassertore der Stadthäuser, die den Adligen gehörten. Weiter flußabwärts sahen sie die Schlammufer vor dem hohen, halb von Rauch verhüllten Häusergewirr des Strandes und der City.
Als sie Duke's House in Dorset Gardens erreichten, nahm Fenton eine Seitenloge, die nichts weiter war als eine winzige, mit vier nackten Pfosten abgegrenzte Nische an einer Backsteinwand. Doch die Bühne war ziemlich groß und mit beweglichen Kulissen sehr gut ausgestattet.
Wie alle Damen von Rang und Ansehen, hatte Lydia sofort beim Betreten des Schauspielhauses ihre dunkle Halbmaske angelegt. Es war das einzige, was ihr von der Welt des Theaters bekannt war, und die Maske schien sie zu fesseln.
»Gibt's wohl etwas zu lachen?« flüsterte sie eifrig, als sie Platz nahmen, und zupfte Fenton am Ärmel. »Werden wir sehr viel Spaß haben?« In dem kleinen, gefüllten, übelriechenden Theater verliehen viele trübe Kerzen der überladenen Szenerie eine gewisse erhabene Pracht.
»Nein, mein Schatz«, erwiderte Fenton. »Heute wird Mr. John Drydens gereimte Tragödie Aurungzeb gegeben. Du hast doch sicherlich gehört, daß der berühmte Dryden kürzlich heftig attackiert worden ist, und zwar in einer Komödie, die Seine Gnaden von Bucks« - der ganze Green-Ribbon-Klub erstand vor seinen Augen - »geschrieben haben, um ihn lächerlich zu machen.«
»Ich bin so unwissend«, murmelte Lydia, während sie ihren Umhang löste und über die Stuhllehne warf.
Bis dahin hatten die Stutzer, die zu beiden Seiten der Bühne auf Stühlen saßen, gelangweilt ihre Perücken gekämmt oder sich gegenseitig witzige Bemerkungen zugerufen, um die Parterrebesucher zu beeindrucken. Aber jetzt wurden sie auf einmal wach, und ein Dutzend goldene Lorgnetten richteten sich wie gebannt auf Lydia. Männer und Frauen erhoben sich in den Seitenlogen, im Parterre und in der Galerie, um sie besser zu sehen. Die Masken gaben den Frauen in der trüben Beleuchtung ein unheimliches Aussehen. Ein betrunkener Mann in der Galerie pries Lydias Vorzüge in aufrichtigen, aber fast ans Obszöne grenzenden Worten. Dies gefiel ihr. Trotz ihrer Verwirrung lächelte sie unverhüllt. Ein Beifallsgemurmel erhob sich für diese Herablassung einer Dame, die unverkennbar von Stand war.
»Nun sieh mal einer an«, spottete Fenton, »wie alle meine Meinung teilen. Ich bin im höchsten Grade eifersüchtig.«
»Ach, sei still!« rief Lydia. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Du machst dich über mich lustig. Bitte, tue das nicht. Ich habe es nicht gern. Was wolltest du noch von diesem Theaterstück sagen?«
»Nun, darüber ist nicht viel zu sagen. Dies ist Mr. Drydens Antwort auf die Farce Seiner Gnaden von Bucks Wohlgemerkt, besteht sie nicht aus schlagfertigen Erwiderungen. Mr. Dryden will nur zeigen, daß er eine Bestleistung hervorbringen kann. Horch! Der Prolog beginnt!«
Die führende Rolle hatte Mr. Betterton inne, der mit den Gefühlen seines Publikums spielte wie ein erstklassiger Degenfechter mit einem Neuling. Er fesselte die Zuschauer derart, daß man hören konnte, wie sich hin und wieder ein Stutzer die Perücke kämmte oder eine Dame an ihrer Parfümkugel roch. Am Ende der Vorstellung verhielt sich das Haus mehrere Sekunden lang schweigend. Den meisten liefen die Tränen über die Wangen. Dann brach ein tosender Beifall aus, der die Wände zu sprengen drohte.
Fenton hatte das Stück bereits gelesen. Die Tragödie an sich hatte ihn ziemlich kaltgelassen, aber die machtvollen Worte hatten ihn gepackt: Lydia schluchzte, als sie sich durch das Menschengewühl an die frische Luft drängten. Fenton hatte Mühe, sie zu besänftigen.