Da sie an der Anlegestelle wegen des großen Andrangs lange warten mußten, hatte sich die Dunkelheit bereits herabgesenkt, als sie endlich zur Whitehall-Treppe zurückgerudert wurden. Der Halbmond war inzwischen aufgegangen, und in seinem Licht sahen sie die Silhouetten der zahlreichen, mit Schornsteinen gespickten hohen und spitzen Dächer des Whitehall-Palastes. Eine frische Brise sprang auf, und Fenton legte Lydia den Umhang fester um die Schultern. Die Flut hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht. Weit hinter ihnen schäumten und tosten die Wassermassen zwischen den Pfeilern der London Bridge.
»Lieb Herz«, sagte Lydia in einem Tonfall, der ihm vertraut war. Sie spielte mit ihrer Maske, die sie schon vor langem abgenommen hatte.
»Was möchtest du gern, Liebling?« fragte er. »Würdest du mich noch zu einem anderen Platz begleiten, Nick, wenn ich den Wunsch hätte? Ich habe schon so oft davon gehört, bin aber noch nie dagewesen. Der Name ist Spring Gardens.« Fenton lehnte sich zurück und blickte sie an. »Du hast davon gehört, sagst du?«
»Oh, ja!«
»Nun, Spring Gardens ist ein ungeheuer großer, von einer hohen, dichten Hecke umgebener Lustgarten am Rande des Parks. Im Innern findest du viele andere Hecken und Lauben und verschlungene Pfade unter dunklen Bäumen - ein toller Irrgarten. Er ist höchst diskret beleuchtet und in manchen Teilen überhaupt nicht.«
»Lieber Nick, ich .«
»Du kannst dort auch Erfrischungen zu dir nehmen und einem Musiktrio lauschen. Aber in der Hauptsache, Lydia, ist es ein Tummelplatz für junge Stutzer: sie verfolgen dort maskierte Nymphen, die beschwingt dahineilen und doch nicht unwillig sind, sich in einem lauschigen Winkel fangen und verführen zu lassen.«
»Ich werde auch eine Maske tragen«, erklärte Lydia unschuldsvoll, »und dazu mein allerältestes Kleid.« Fenton betrachtete sie mit gespielter Strenge. »Du bist mir ja ein schönes Frauenzimmer!« sagte er. »Hure! Dirne! Pfui!«
Lydia warf den Kopf in den Nacken und blickte zur Seite.
»Nein: Soll ich dir sagen, was du bist?« fragte Fenton lächelnd. »Du bist eine höchst respektable Frau, die das Verlangen hat, einmal die Rolle einer leichtfertigen Dirne zu spielen. Würde in Spring Gardens jemand vermuten, daß dein Verfolger dein eigener Mann ist?«
»Oh!« rief Lydia mit offenem Munde. »Woher wußtest du das.?«
»Nun, weil viele Frauen denselben Wunsch hegen, ohne es einzugestehen.«
»Willst du mich morgen abend dorthin führen, wenn das Wetter schön ist?«
»Siehst du den Stern da oben?« fragte er, auf den Himmel deutend. »Auch dorthin würde ich mit dir gehen, wenn du es wünschtest und ich die Möglichkeit besäße. Deine Bitte ist leicht zu erfüllen. Also, auf nach Spring Gardens!«
Und so beschwor Lydia, ohne es zu wissen, ein böses Unheil herauf.
»Ich werde wirklich mein ältestes Gewand anziehen«, wiederholte sie tugendhaft.
Selbstverständlich tat sie nichts dergleichen, sondern ging am nächsten Tag aus, um sich ein neues zu kaufen. Um zehn Uhr abends ging Fenton, nachdem Giles ihn angekleidet hatte, durch den oberen Korridor, der durch einige Wandleuchter trübe erhellt war. Er trug, wie üblich, einen losen, bequemen, dunkelfarbigen Samtanzug und nach seinen Wünschen angefertigte Schuhe. Giles war immer wieder von neuem entsetzt, weil er auf Ringe mit kostbaren Juwelen, diamantene Westenknöpfe und anderen Zierat verzichtete.
Zur selben Zeit lief Lydia aus ihrem Schlafzimmer und eilte auf die Treppe zu.
Lydia trug wohl eine Maske, aber keinen Hut. Ihr Kleid, himmelblau und silber gestreift und mit winzigen Röschen verziert, hatte keine Achselbänder und war so geschnitten, daß Fenton sich im stillen wunderte, auf welche magische Weise es an ihrer Figur haftenblieb. Neben ihr ging ihre neue Zofe, Bet, die ein scharlachrotes, dunkelblau gefüttertes Cape in der Hand trug. »Fürwahr«, erklärte Lydia, als sie Fenton sah, »dies ist mein ältestes Kleid.«
Obgleich er in fröhlicher Stimmung war, da er beim Abendessen ein Liter Malvasier getrunken hatte, war sein Herz voller Zweifel. Auch spürte er, wie die Eifersucht an ihm nagte. Auf wen? Auf irgend jemanden.
»In der Theorie«, meinte er, »gibt dieser Spaß keinen Anlaß zu Mißtrauen. Aber wenn ich dich unter diesen wilden Gesellen loslasse, um dich zu verfolgen .«
Lydia rannte auf ihn zu, während Bet das große scharlachrote Cape an ihrem Hals befestigte.
»Du hast mir aber doch gestattet«, protestierte sie, »heute allein in der Kutsche auszufahren.«
»Das war etwas anderes. Da waren Whip und Harry bei dir.« Whip war der breitschultrige Kutscher und Harry einer der Diener, ein leidlicher Degenfechter, der jeden Tag mit Fenton übte.
»Wenn ich dich nun in dieser Horde verlieren sollte?« erkundigte sich Fenton. »Wenn dich irgendein behender Bursche fassen sollte? Was dann?«
»Wenn's weiter nichts ist«, meinte Lydia gelassen. Sie schlug die linke Hälfte ihres Capes zurück, und in dem wattierten Futter befand sich eine kleine Tasche mit einer gamsledernen Scheide, in der ein dünner, leichter Dolch mit goldenem Griff und rasiermesserscharfen Schneiden steckte.
»Wenn irgend jemand außer dir mich anrühren sollte«, erklärte Lydia einfach, »würde ich nicht versuchen, ihn zu töten. Denn ich glaube, das brächte ich nicht übers Herz. Aber auf Monate, vielleicht auch Jahre hinaus würde er es bedauern, mich je gesehen zu haben.« Unter der Maske weiteten sich ihre Augen vor Staunen. »Liebling, wußtest du das nicht?« Lydia verstand nicht, warum er sie so heftig küßte.
»Ich bin ein kläglicher Narr!« rief er lachend. »Worauf warten wir noch?«
Als sie die Treppe hinabeilten, blickte Fenton zurück und sah am entlegenen Ende des Korridors Judith Pamphlin, die regungslos mit verschränkten Armen in der Dunkelheit stand und sie beobachtete. Nicht lange nachdem sie fort waren, kam ein Dienstmann die Pall Mall entlang und erkundigte sich bei jedem Portier nach Sir Nicholas Fentons Haus. Als er bei Sam anlangte, schnippte dieser mit den Fingern, woraufhin der Dienstmann ihm einen zerknitterten Brief aushändigte und dafür Sixpence empfing.
Sam rief Giles herbei, der den Brief unter eine der Wandkerzen in der Halle hielt. Auf dem Umschlag stand in sauberer Handschrift: »An Sir Nick Fenton, der in der Pall Mall wohnt.« Auf der anderen Seite trug er ein Siegel, unter dem »Jonathan Reeve, Esq.« zu lesen war.
Giles biß sich unschlüssig auf die Unterlippe. Dann erbrach er das Siegel und las den Inhalt. Seine Züge verschärften sich, und er wurde ein wenig blaß. Eine Weile stand er regungslos da, in Gedanken versunken. Dann eilte er fort.
Inzwischen hatten Lydia und Fenton das hohe, halb in der Hecke versteckte Eisengatter des Haupteinganges zu Spring Gardens entdeckt. Unmittelbar beim Tor befand sich ein kleiner freier Platz. Dahinter erhob sich eine zweite Hecke mit verschiedenen Eingängen, die tiefer in das Waldland führten. Der Mond schien nur schwach und die Beleuchtung war spärlich. Sie bestand aus kleinen Papierlaternen mit einer Kerze oder aus Pechfackeln und reichte eben aus, um die Menschen am Stolpern zu hindern. Zuerst schien eine tiefe Stille in den Gärten zu herrschen. Selbst die Streichkapelle spielte nicht. Nach und nach drangen aber leise Geräusche an ihre Ohren: ein schwaches Flüstern, ein rasches Trappeln von Füßen, das Knacken eines Zweiges, das leise, zitternde Lachen eines Mädchens.
Das Herz klopfte Fenton zum Zerspringen, und er küßte Lydia voller Leidenschaft, bis sie sich sanft von ihm löste. »Sieh her, ich werde nicht stolpern«, flüsterte sie, während sie ihm ihre Schuhe zeigte, die zwar klein und silbrig, aber doch recht fest waren und flache Absätze hatten. »Nun werde ich laufen. Zähle du langsam bis fünf; dann folge mir.«