»Wenn ich dich aber .«
»Ich werde niemals weit von dir entfernt sein, wenn du mich auch nicht siehst. Also los!«
Und Lydia eilte davon. Ihr scharlachrotes Cape bauschte sich, und sie hielt mit zierlichen Fingern ihr himmelblaues Kleid mit den silbernen Streifen empor. Sie rannte nicht in eine der vor ihnen liegenden Öffnungen, wie er angenommen hatte, sondern bis zum abgelegensten Ende der inneren Hecke, um deren Biegung sie verschwand.
»Eins.« Fenton hatte langsam für sich zu zählen begonnen. »Zwei.«
Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich vorzustellen, wie grotesk Professor Fenton von Cambridge diese Situation gefunden hätte. Er war jetzt eben ein junger Mann und hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Die alte Welt schien langsam zurückzuweichen . Sein Ohr war auf jedes Geräusch eingestellt. Bei »drei« konnte er noch ihre Schritte auf dem Gras hören. Er raffte die Falten seines leichten Mantels zusammen und hielt die Scheide seines Degens fest, damit sie ihm beim Laufen nicht hinderlich war. »Fünf!« rief er laut und rannte hinter ihr her. Als er um die Biegung sauste, zeigte ihm ein schwacher Lichtschein einen schmalen Graspfad, der auf einige Entfernung hin in gerader Richtung verlief. Er hielt sich an diesen Pfad und suchte eifrig nach einer Öffnung in der Hecke.
Schließlich entdeckte er einen niedrigen Bogengang, der zu einer »Laube« führte. Das Blätterdach war hier so dicht, daß kein einziger Mondstrahl hindurchdrang. Der Boden war zunächst mit Kies und dann mit Gras bedeckt. Aus einem abgelegenen Winkel ertönte das Flüstern von zwei Stimmen, und was Fenton vernahm, trieb ihn hastig aus der Laube. Abgesehen davon, hätte er Lydias Schritte auf dem Kies hören müssen, hätte sie diesen Weg gewählt. Also rannte er weiter, bis er eine weitere Öffnung in der Hecke fand. Diese führte zu einem verwirrenden Platz, wo drei Wege zwischen hohen, von duftenden Blumen überrankten Mauern abzweigten. Er stürzte den ersten entlang und landete vor einem vernagelten Tor. Dann wählte er den zweiten und gelangte irgendwie auf den dritten. Auf diesem Weg blieb er stehen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß ja alle roten Farben im Dunkeln oder im Halbdunkel praktisch unsichtbar sind. Vielleicht war Lydia schon öfter an ihm vorbeigekommen. »Lydia!« rief er. »Darf ich's nicht sein?« fragte eine weiche weibliche Stimme so dicht in seiner Nähe, daß er zurücksprang. Eine Hand, die offenbar nicht abgeneigt schien, verfolgt zu werden, streckte sich aus und berührte ihn am Ärmel. Leise »Lydia« rufend, jagte er, von einem spöttischen Gekicher verfolgt, in eine andere Richtung und kam wieder auf den Hauptweg.
Es war aussichtslos. Wenn es ein regelrechter Irrgarten gewesen wäre, hätte er seinen Verstand gebrauchen können. Aber hier herrschte ein wirres Durcheinander. Gedämpfte Schritte eilten auf ihn zu, und in dem unsteten Mondlicht sah er ein Mädchen in weißer Maske und einem kurzen, weißgeblümten Musselinkleid, ungestüm verfolgt von einem Stutzer mit Perücke, der die Maske eines Satyrs trug.
Sie flitzten vorbei wie Gestalten aus einem Feenland. Der Satyr grinste kameradschaftlich und ermutigend, während er Fenton zuflüsterte: »Niemals tragt einen Degen, zum Henker!« Kurz darauf erhaschte er einen flüchtigen Blick von Lydia. Er war in eine andere Seitenöffnung eingebogen, durchaus entschlossen, alle der Reihe nach zu erforschen. Der Weg teilte sich in zwei Pfade. Der Instinkt sagte ihm, daß der Pfad zur Rechten entweder eine Sackgasse war oder zu einer Laube führte. Aber am Ende des schmalen Grasweges zur Linken konnte er im matten Schein der Fackel eine dichte, kreisförmige Hecke erkennen, die nach dieser Seite hin einen hohen Bogeneingang hatte.
Eine Gestalt huschte an der Hecke entlang und dann in den Bogengang. Im Schein einer Fackel sah Fenton einen scharlachroten Umhang und silberne Schuhe aufblitzen. Lydia! Sie lugte nach rechts und links, auf dem Sprung, ihre Flucht fortzusetzen. Fenton stolperte beinahe über einen Zwergbaum und glitt dann rasch und geräuschlos zu der runden Hecke, die vier Bogeneingänge nach allen Himmelsrichtungen hatte. In der Mitte lag eine muldenförmige, mit weichem Gras bedeckte Vertiefung. Eine einzige Fackel tauchte das Innere in ein mysteriöses Halbdunkel. Er sah Lydia mit hochgezogener Kapuze. Sie schien unschlüssig, welchen Weg sie wählen solle. Sein Blut war aus mehr als einem Grunde in Wallung geraten, und er gedachte Lydia mit einem derben Stoß zu Boden zu werfen - was sie nicht im geringsten beanstandet hätte; Frauen waren an rauhe Behandlung gewöhnt. Statt dessen schlich er sich an sie heran, hob sie mit beiden Armen auf und rannte mit ihr durch die muldenförmige Vertiefung, um sie auf dem sanft ansteigenden Abhang niederzulegen. Während er sie mit einem Arm und einer Schulter fest am Boden hielt, schob er mit der anderen Hand Kapuze und Maske zurück. »Dachtest du etwa ...«, begann er und verstummte. Denn er blickte in die grauen Augen und auf den lächelnden Mund seiner Freundin, Meg York.
XIII
Aus Gründen der Bequemlichkeit zog Meg ihr Cape aus und legte sich auf die dunkelblaue Innenseite. Ihr dickes, glattes schwarzes Haar war durch das Zurückschieben der Kapuze in Unordnung geraten. Fenton sah - und verwünschte gleichzeitig diese treulosen Gedanken -, daß Megs Schultern und Brüste voller waren als Lydias, obwohl ihre Figur schlanker war. Ihr dunkles Haar hob sich scharf von der weißen Haut ab.
Warum in aller Welt packte ihn jedesmal, wenn er Meg begegnete, eine Art Wahnsinnstaumel?
»Ei der Daus«, flüsterte sie, während sie sich dichter an ihn herankuschelte, »haltet Ihr meine kleine Fopperei für so klug? Na, dann will ich Euch mein Geheimnis verraten. Ich war heute in einem großen Laden, >La Belle Poitrine<, als die reizende Lydia hereinkam. Ich hörte ihr lautes Bühnengeflüster: >Ich muß das Kleid heute noch haben. Es ist für Spring Gardens heute abend.< Nun, so brauchte ich nur Kleid und Umhang nachzuahmen und mein Haar zu bedecken.«
Fenton warf rasch einen Blick um sich. Noch niemals in seinem Leben hatte er eine so starke Versuchung empfunden. Und da er keinen Widerstand, nur Ermutigung bekam, ließ er alle Skrupel zum Teufel fahren.
»Verdammt«, sagte er sich. »Ich will sie besitzen, und wenn sie unter einer Decke von Dornen läge!«
Seine Lippen preßten sich auf Megs feuchten Mund, und seine Arme umschlossen sie fester. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie schob seinen Kopf mit beiden Händen zurück, und ihre grauen Augen blickten ihn fest an.
»Nein«, sagte sie, obgleich er die Glut ihrer Leidenschaft spürte, »diese Lichtung ist zu öffentlich. Ich werde Euch in eine Laube führen, die ich kenne. Aber zuerst möchte ich eine Frage an Euch richten.« Haß stieg in ihr auf. »Bist du zufrieden mit meiner reizenden Base Lydia?«
Das alte Problem tauchte wieder auf.
»Und ich habe eine Frage an dich«, entgegnete er. »Bist du Mary Grenville?«
»Natürlich«, antwortete sie in der Ausdrucksweise des zwanzigsten Jahrhunderts.
Auf einen Ellbogen gestützt, starrte Fenton sie an. »Aber ach, du meine Güte!« fuhr Meg fort. »Ein paarmal hast du mich arg in die Enge getrieben. Und warum warst du so gemein zu mir? Du hast mich sogar aus dem Haus geworfen, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen und dir ein paar Andeutungen zu machen.«
Fenton hatte vorübergehend den Eindruck, als fließe alles zusammen - Hecken, Gras und das aufreizende Lächeln, das um Megs geschweifte Lippen spielte. Es war, als habe sich ein riesiges Auge geöffnet und ihm mit einem gewaltigen Zwinkern eine feuchte, moderne Londoner Straße und ein ernsthaftes Mädchen in einem Glockenhut gezeigt.
»Wenn ich dich schlecht behandelt habe«, erwiderte er, »so geschah es, weil Sir Nick meistens die Oberhand hatte. Mein zweites Ich sozusagen. Warum hast du nicht frei von der Leber weg geredet, als ich dich bei unserer ersten Begegnung >Mary< nannte?«
Er hörte ihren leisen Seufzer.