»Hm«, meinte Lydia.
»Jedenfalls war mein Hauptmann überzeugend. Ich solle mir weiter keine Gedanken darüber machen. Er werde schon ein Wörtchen mit dem nächsten Friedensrichter reden. Mittlerweile lasse er zwei große Wagen holen. Auf den einen sollten die Toten geladen und in den Pestgruben begraben werden. Der zweite Wagen sei für die Verwundeten. Die Leichtverletzten würden nach Hause gebracht und gewarnt, daß beim nächsten Aufruhr der Galgen ihrer harre. Die Schwerverwundeten sollten zum ChristKrankenhaus geschafft werden, und dem Chefarzt werde dieselbe Warnung ins Ohr geflüstert, damit er sie an die Männer weitergebe. Somit sei alles geebnet und vertuscht.«
Fenton wurde nachdenklich. »Nach Giles' Schätzung beträgt die Zahl der Toten und Verwundeten im ganzen einunddreißig.«
»Du hast aber auch so gut gekämpft wie nur irgendein Rundkopf.«
»Wie. wer?« fragte Fenton. Selbst in dieser Verfassung packte ihn der Zorn.
»Wie . wie Prinz Rupert selbst«, erwiderte Lydia sanft und legte ihren Kopf auf seine Brust, als er in die Kissen zurücksank. »Schlaf, Liebster. Schlafe nun. Schlaf.«
Am folgenden Tage, als die Reaktion einsetzte und er sehr unter den Schmerzen litt, nahm Fenton Opiumtinktur und schlummerte den ganzen Tag und die folgende Nacht. Am Morgen darauf erwachte er jedoch voller Energie. Da er zu jenen Patienten zählte, die es einfach nicht im Bett aushalten können, bestand er darauf, aufzustehen und angekleidet zu werden.
An diesem Tag saß er nachdenklich mit Lydia im Studierzimmer, wo er heimlich seinen Eintrag machte. Er hatte das Gefühl, daß zu wenig Leben und Heiterkeit im Haus herrsche, daß Lydia sich langweilen müsse. Also schrieb er an Mylord Danby, den Lord Schatzkanzler, sowie an mehrere Freunde auf dem Land (die George als Freunde erwähnt hatte) und bat sie, einen Tag zu nennen, an dem sie bei ihm zu Mittag oder zu Abend speisen könnten. Am nächsten Tag, als er den 9. Juni eintrug, fühlte er sich ganz wohl. Er hätte es jedenfalls so bezeichnet. Die Wunden in seiner Seite und am Ohr waren unbedeutend, aber die vielen Quetschungen erschwerten seine Bewegungen.
Am Spätnachmittag entschloß er sich zu einem Spaziergang. Als er seinen Hut an der Perücke befestigt hatte und die Haustür aufschließen wollte, stieß er auf Schwierigkeiten. Ungeduldig zog er den großen Schlüssel heraus. Nach einem gründlichen Blick prüfte er das Schlüsselloch sorgfältig mit den Fingerspitzen. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Seife. Verschmutzte Seifenreste. Einer unter dem Pöbel hatte fraglos die Hunde vergiftet. Aber jemand anders, der sich vielleicht diese Gelegenheit zunutze machte, hatte einen Seifenabdruck vom Schloß genommen, um sich einen Schlüssel anfertigen zu lassen.
Fenton ging sofort zu den Stallungen, um Job, der wieder heiter bei der Arbeit war, Instruktionen zu erteilen. Er hieß ihn, in allerkürzester Zeit innen an der Haustür einen Riegel anzubringen. Dann machte er sich auf den Weg nach Charing Cross. Ein Giftmischer von außerhalb? Aber was konnte der Feind schon anrichten? Die Gefahr für Lydia begann erst Schlag Mitternacht, wenn der 10. Juni anfing. Und er selbst probierte ja alle ihre Speisen und Getränke. In seiner Abwesenheit rührte sie nichts an. Fentons heitere Stimmung kehrte zurück, als er von Charing Cross nach Hause wanderte. Vor seinem Haus war eine große, düstere, braun angemalte Kutsche mit goldenen Verzierungen vorgefahren. Er eilte an den Schlag, an dem Sam, stumm und ehrerbietig, mit seinem Amtsstab stand, den er wie eine Lanze hielt. »Nick, mein Junge!« ertönte eine Stimme aus dem Innern. Im Rahmen des offenen Schlags zeigte sich ein großer, sehr hagerer Mann, dessen Porträt Fenton gesehen hatte, den er aber nicht identifizieren konnte.
Der Mann machte einen etwas steifen, strengen Eindruck. Die ungeheure braune Perücke umrahmte ein schmales, kränkliches Gesicht mit tiefgefurchter Stirn.
»Ich hielte es für schlimm, mein Junge«, fuhr er fort, »wenn Tom Osborne nicht in eigener Person auf einen Brief von Nick Fentons Sohn antworten könnte.« Für einen Augenblick preßte er seine langen, hageren Finger ans Gesicht. »Oh, diese Arbeit, diese endlose Arbeit im Schatzamt!«
Thomas Osborne, natürlich! Graf von Danby, Lord Schatzkanzler, des Königs erster Minister.
»Mylord«, sagte Fenton, »wollt Ihr nicht aussteigen? Besser noch: wollt Ihr nicht bleiben und mit uns zu Abend speisen?« Mylord Danby lächelte, und der müde Ausdruck wich einen Augenblick aus seinem Gesicht.
»Das«, sagte er mit schiefem Gesicht, »ist die traurige Botschaft, die ich Euch bringen wollte. Ich muß heimwärts eilen und mich auf meine Papiere stürzen, wie an jedem anderen Abend, den Ihr nennen mögt. Aber wenn Ihr Euch vielleicht einen Moment zu mir in die Kutsche setzen wolltet?«
Fenton stieg ein und schloß die Tür, nachdem er dem Minister gegenüber Platz genommen hatte.
»Ich beneide Euch um Eure Jugend«, sagte Danby. Auf den ersten Blick hin schien sein Lächeln gräßlich, aber bei näherer Betrachtung wirkte es durchaus freundlich. »Nein, ich neide Euch nichts. Ist Eure Gemahlin wohlauf?«
»Gott sei Dank, ja.«
»Meine Gesundheit. Ein Doktor der Medizin hat mir seltsame Vorschriften gemacht.«
Fenton beugte sich vor.
»Mylord«, sagte er in ruhigem Ton, »es wird Euch guttun, wenn Ihr zum Essen bleibt.«
Mylord Danby, der sich in seiner ganzen Länge zurückgelehnt hatte, betrachtete sein Gegenüber mit trüben, aber scharfen Augen.
»Irgendwie ist eine seltsame Wandlung mit Euch vorgegangen«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Ich kann nicht sagen, in welcher Beziehung. Ein wahres Wunder! Ihr wünscht in der Tat, daß ich hierbleibe?«
»Aber warum denn nicht?« fragte der erstaunte Fenton.
»Weil alle Männer mich hassen«, erwiderte Danby mit gesenktem Blick. »Die Oppositonspartei und sogar meine eigene Partei hassen mich. Warum hassen sie mich eigentlich?«
»Das sind Hirngespinste. Ihr seid überarbeitet.« Unvermittelt lehnte sich Danby vor und umklammerte Fentons Arm mit langen, dünnen Fingern.
»Dies behaltet für Euch selbst«, sagte er mit leiser Stimme. »Vor vier Jahren, als ich mein Amt antrat, war die Staatskasse beinahe leer. Bald aber hatte ich eine Million Pfund Sterling eingezogen, und ich habe die Flotte um dreißig neue Schiffe vergrößert - mächtigere Linienschiffe als alle, die wir bisher besaßen. Denn ich bin der Ansicht, daß wir die Herrschaft auf dem Meer behalten müssen und daß uns diese kein Holländer oder Franzose streitig machen darf.«
Er ließ die Hand fallen und wischte sich die Stirn mit einem Spitzentuch.
»Ich glaube, ich habe dem Schatzamt treu gedient«, fügte er hinzu. »Ich weiß nicht, was diese Herren eigentlich wollen.«
Goldene Lichter, die durch die Lindenbäume fielen, tanzten auf der staubigen Kutsche. Als Fentons Blick zum Fenster hinauswanderte, bot sich ihm ein herzerfrischender Anblick. Auf sein Haus zu ritten George Harwell in prachtvollem Staat und Mr. Reeve in geflickter Kleidung auf Pferden, die den Kostümen ihrer Besitzer entsprachen. Sie schienen nach Blutflecken auf der Straße zu suchen. Aber der Regen hatte solche Spuren längst fortgespült. Als sie nach links zum Stallhof einbogen, drangen einige Fetzen ihrer Unterhaltung sogar bis in die geschlossene Kutsche.
»Dann genießt Ihr also die Gunst eines neuen Frauenzimmers.« Es war die asthmatische, gewichtige Stimme Mr. Reeves. »Gut; das ist also in Ordnung. Jetzt.»
»Ich habe es Nick Fenton ja gesagt, daß ich eine finden würde«, erklärte George voller Stolz, »Potz Geck! Ich hab's geschafft. Ah, und was für eine Frau! Ihre Lippen zwei rote Kirschen, eine über der anderen! Ihre .«
Intimere Einzelheiten verhallten in der Ferne. »Seht, Mylord!« sagte Fenton und deutete auf die Sonne. Er war aufrichtig bekümmert über Danbys Gemütsverfassung. »Es ist noch nicht Abend. Wir essen immer sehr früh. Ihr braucht dringend eine ablenkende Unterhaltung, die mit Politik nichts zu tun hat. Könntet Ihr von, sagen wir, einem Kapaun und einem Glase Wein Schaden nehmen?«