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»Ich habe viel Wichtiges zu erledigen«, sagte er, und sein rauher, barscher Ton traf den Diener wie ein Schlag. »Ist Lord George Harwell schon da?«

»Nein, Sir, ich glaube nicht«, erwiderte Giles, während er seinem Herrn die Schuhe anzog.

»Na, wenn er kommen sollte, muß er eben warten. Du kannst einen Gang für mich besorgen. Richte der gnädigen Frau eine Empfehlung von mir aus und .«

Giles' dunkle Augen weiteten sich. »Eurer Gemahlin?«

»Hast du keine Ohren?« fragte Fenton. »Gewiß doch. Ich dachte nur .«

»Frag sie«, fuhr Fenton fort, eingedenk der geltenden Regeln, »ob sie mir hier so bald wie möglich ihre Aufwartung machen will, falls es ihr keine zu große Mühe verursacht.« Der Ehemann mußte stets die Frau zu sich kommen lassen und niemals in der Öffentlichkeit zu ihr gehen.

»Ich fliege«, murmelte Giles und versuchte, einen lüsternen Blick zu unterdrücken. Als er sich umwandte, spürte Fenton ein heftiges Verlangen, ihm einen kräftigen Tritt in den Allerwertesten zu versetzen, doch er wußte, daß Giles trotz seines Alters, das irgendwo zwischen fünfzig und siebzig lag, viel zu behende war, um sich schnappen zu lassen.

»Ah«, murmelte der Diener, »wenn ich mich erdreisten darf.?«

»Was gibt's denn nun?«

»Sollte ich durch einen unglücklichen Zufall Madam York begegnen .«

»Dann soll sie sich zum Teufel scheren!« Die Tür schloß sich.

Fenton ging unruhig im Zimmer auf und ab. Er war sich bewußt, daß er durch diese Aufforderung an Lydia Gefühlsströme in Bewegung setzte, die ihn gestern nacht beinahe überschwemmt hätten. Aber jeder Augenblick dieses Morgens hatte ihn kühner gemacht; das lag wohl an seinem neuen Alter und der Verwandlung seines Äußeren. Er mußte ja zu Lydia eine gewisse Zuneigung verspüren, nachdem er neun Jahre lang versucht hatte, sich vorzustellen, wie sie in Wirklichkeit aussah.

Aber dies - das redete er sich jedenfalls ein - war jetzt nicht von Bedeutung. Er preßte die Hände an den Kopf und dachte an die Gerichtsmedizin, die er so eifrig studiert hatte. Wäre er in der vergangenen Nacht nicht übermäßig erregt gewesen, hätte er erkannt, warum Lydia sich so stark geschminkt und einen so unsteten Gang gehabt hatte.

Auf zierlichen Absätzen trippelnde Füße kamen rasch über die nackten Dielen des Flurs. Dann wurde leise an die Tür geklopft. »Tretet ein!« rief Fenton.

Es war Giles, der die Tür öffnete. Doch es wirbelten so viele Gefühlsströme in das Zimmer, daß Fenton ihn nicht einmal bemerkte. Im nächsten Augenblick trat Lydia zögernd über die Schwelle. »Mein Gott!« rief Fenton unwillkürlich und starrte sie so lange unumwunden an, daß ihr unbehaglich zumute wurde und ihr das Blut in die Wangen schoß.

Lydia trug heute ein hellbraunes, in der Taille gerafftes Hauskleid mit winzigen Rüschen am Hals und an den Ärmeln. Sie schien keine entstellenden Kosmetika aufgetragen zu haben. Ihr frisches, von lichtbraunem Haar umrahmtes Gesicht wirkte im Augenblick nicht mehr krank oder erschöpft, weil es rosig angehaucht war. Sie hatte blaue, weit auseinanderstehende Augen, eine kurze Nase, einen vollen Mund und ein rundes Kinn. Sie war kein Schönheitstyp à la mode, da es ihr an einer gewissen Kühnheit fehlte. Aber um Fenton war es geschehen. Da Lydia niedrige Absätze trug, erschien sie noch kleiner.

»Findet Ihr mich«, murmelte sie mit gesenkten Augen und schien nach einem passenden Wort zu suchen, »gefällig?«

»Gefällig?« wiederholte Fenton.

Er trat dicht an sie heran, hob ihre Hand, küßte sie und preßte sie an seine Wange.

»Gestern nacht«, stammelte sie, »habt Ihr mir auch einen Handkuß gegeben. Das habt Ihr nicht getan seit.« Sie brach ab. Jetzt, als er dicht vor ihr stand, konnte er den dünn aufgetragenen Puder sehen - hoch oben auf der Stirn beim Haaransatz und auf einer Wange. Wahrscheinlich erstreckte sich der Belag auch auf Arme und Schultern. Wenn er sie dazu überreden konnte, sich niederzulegen, konnte er selbst bei dem schlechten Licht Klarheit gewinnen.

»Mylady«, sagte er sanft, »wollt Ihr die Güte haben, Euch auf das Bett zu legen?«

Im selben Augenblick verriet ihm ein sechster Sinn die Anwesenheit von Giles Collins.

Er stand neben dem Ankleidetisch und hatte die roten Augenbrauen fast bis zum Haaransatz emporgezogen, während sein Mund sich zu einem entzückten Pfeifen spitzte.

»Affe! Laus!« brüllte Fenton, während er sich nach einem Wurfgeschoß umsah. »Ich werde dich an den Pranger bringen! Fort mit dir! Raus!«

Dieses Mal bot sich Fenton wiederum die Gelegenheit, einen gewaltigen Tritt auszuteilen, da Giles am Bett vorbei mußte. Aber es gelang Giles, diesem aus dem Wege zu gehen. »Giles«, sagte er knurrend und halb versöhnlich zu dem boshaft grinsenden Gesicht vor der Tür. »Guter Herr?«

»Sorg dafür, daß uns keiner stört.«

»Ich selbst werde Wache halten, Sir Nick.« Und Giles hakte die Tür ein, die weder Schloß noch Riegel hatte.

Fenton kehrte wieder ans Bett zurück. Lydia hatte sich inzwischen gehorsam, wenn auch leicht zitternd, hingelegt, und Fenton setzte sich auf den Bettrand.

»Mylady .«, begann er sanft.

»Kannst du denn nicht ein bißchen zärtlich sein?« flüsterte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. »Nenne mich doch Lydia! Oder« - sie zauderte, da sie kaum den Mut besaß, diesen Vorschlag zu machen -, »oder sogar. liebes Herz?«

Fenton spürte einen Stich im Herzen, nicht wegen ihrer Naivität, sondern wegen ihrer Hingebung an den Mann, den sie in ihm vermutete.

»Liebes Herz«, sagte er und ergriff ihre Hand, wobei er verstohlen den Puls fühlte, »denkst du noch manchmal an früher? Als ich mit siebzehn Jahren im Paracelsus-College die Würde eines magister artium erlangte und Arzneikunde studieren wollte, was mein Vater aber für unter meiner Würde hielt?«

Sie nickte. Fenton, dem dies alles aus Giles' Manuskript bekannt war, besaß keine Uhr, aber er brauchte auch keine, um zu entdecken, daß ihr Pulsschlag schwach, schnell und unregelmäßig war. Als er sachte ihre Wange berührte, fand er sie kalt und ein wenig feucht und klebrig.

»Nun«, fuhr er fort, »ich will dir verraten, daß ich dieses Studium in aller Heimlichkeit betrieben habe. Ich kann dich heilen. Kannst du mir dein Vertrauen schenken?«

Die blauen Augen weiteten sich vor Staunen. »Wem sonst wohl?« fragte sie. »Bist du nicht mein Mann? Und . bin ich dir nicht zugetan?«

Aus ihrer Stimme klang solche Verwunderung, daß Fenton mit den Zähnen knirschte.

»Dann«, sagte er lächelnd, »wird's nicht mehr lange dauern.« Er sprang säbelklirrend auf die Füße und eilte zum Ankleidetisch, wo er den Zipfel eines sauberen Handtuchs in das lauwarme Wasser der Kanne tauchte.

»Und nun, Lydia«, fuhr er fort, indem er mit dem angefeuchteten Tuch vorsichtig den Puder aus ihrem Gesicht wischte, »brauchen wir nur noch .«

»Nein! Das gestatte ich nicht. Niemals!« Sobald das Tuch ihre Stirn berührte, kehrte sich Lydia, heftig den Kopf schüttelnd, zur Wand. Aber Fenton hatte bereits gesehen, was er erwartet hatte: einen Hautausschlag auf der Stirn. Dieselbe Erscheinung zeigte sich unter dem Puderfleck auf der Wange. Sachte betastete er ihre Waden. Beide waren ein wenig geschwollen und mußten sehr schmerzhaft sein. Nur eine zähe Ausdauer und ein leidenschaftliches Verlangen - wonach, das wußte er allerdings nicht- erzeugten in dieser einundzwanzigjähngen Frau den Glauben, daß sie gesund sei. »Lydia!« rief er in scharfem Ton.

Mit einem Schwung drehte sie sich zu ihm um. Halb gegen das Kissen, halb gegen die Wand gelehnt, löste sie mit behenden Fingern die Schleife ihres Mieders, wodurch die ganze obere Hälfte ihres Gewandes auseinanderzufallen schien. Geschmeidig befreite sie Arme und Schultern. Ein hochgeschlossenes seidenes Untergewand, das ihr dabei hinderlich war, zerriß sie kurzerhand, so daß sie schließlich mit völlig entblößtem Oberkörper dalag. Sie entriß Fenton das Tuch und begann, hastig den Puder von Schultern, Armen und Seiten zu entfernen.