»Tut das, Elder«, sagte Angella unbeeindruckt. »Wenn Ihr uns nun bitte entschuldigen wolltet...«
Elder starrte sie noch einen Herzschlag lang so herausfordernd an, daß Angella schon fürchtete, es könne nun doch zu einem offenen Streit zwischen ihnen kommen, aber dann fuhr er auf dem Absatz herum, stürmte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Der Schlag hallte schmerzhaft in Karas Schädel wider. Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie stöhnte und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
Angella blickte einen Moment wortlos auf sie herab. »Tut es weh?« fragte sie dann. Kara nickte, und Angella sagte: »Gut. Sehr gut.« Sie nahm ihre Maske ab, legte sie vor sich auf den Tisch und setzte sich wieder. Ihr Gesicht sah alt aus und schrecklich müde.
»Es tut mir wirklich leid«, begann Kara leise. »Ich... ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Sie sah Angella an und wartete vergebens auf eine Antwort. »Wie geht es Hrhon!« fragte sie schließlich.
»Nett, daß du wenigstens nach ihm fragst«, sagte Angella ärgerlich. »Er hat ein paar Schrammen abgekriegt, aber es geht ihm gut. Was allerdings ganz und gar nicht dein Verdienst ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Er hätte getötet werden können, ist dir das eigentlich klar?«
»Ich wußte nicht, daß Waga diesen Teil der Stadt nicht betreten dürfen«, verteidigte sich Kara, aber Angella nahm ihre Worte gar nicht zur Kenntnis.
»Ihr hättet beide getötet werden können! Und warum? Nur weil du ärgerlich auf mich warst und nicht die Hälfte von dem verstanden hast, was ich dir erzählt habe.« Ihre Erregung wuchs, und plötzlich schrie sie Kara an. »Warum zum Teufel glaubst du, bilden wir euch zu den gefährlichsten Kriegern dieser Welt aus? Damit ihr herumlaufen und aus purer Langeweile Leute zusammenschlagen könnt?«
Kara war klug genug, darauf nicht zu antworten, sondern nur hastig die Augen zu senken; und wie sie gehofft hatte, verrauchte Angellas Zorn fast ebenso schnell wieder, wie er aufgeflammt war.
Angella seufzte tief und fuhr sich erschöpft mit beiden Händen über das Gesicht. »Es war meine Schuld«, sagte sie. »Ich hätte dich nicht allein in Jans Haus zurücklassen dürfen. Vielleicht hätte ich dich erst gar nicht mit hierher bringen dürfen.« Sie nahm die Hände herunter. »Irgend etwas muß geschehen.«
»Es wird bestimmt nicht wieder vorkommen«, versprach Kara.
Angella lächelte traurig. »Das glaube ich dir sogar. Aber das allein reicht nicht. Du hast Elder gehört. Er ist ein einflußreicher Mann. Ich muß mir irgend etwas einfallen lassen, um ihn zu beruhigen. Er kann uns Schwierigkeiten machen, wenn er will, und ich fürchte, er...«
Draußen auf dem Flur waren polternde Schritte zu hören, und dann wurde die Tür aufgerissen, und Jan stürmte herein.
Sein Atem ging so schnell und schwer, daß er Mühe hatte, überhaupt zu sprechen.
»Der Stollen!« stieß er hervor. »Er ist eingestürzt! Loban und zwei der anderen sind verschüttet worden!«
7
Am nächsten Morgen waren Karas Kopfschmerzen immer noch nicht gewichen. Kara kam sich schäbig vor. Der Umstand, daß die Katastrophe vom gestrigen Tag Angellas Zorn auf sie hatte unwichtig werden lassen, gab ihr irgendwie das Gefühl, mitschuldig am Tod der drei Männer zu sein. Das war zwar Unsinn, aber seit wann fragten Gefühle nach Logik?
Die Leichen der drei Männer waren noch nicht geborgen worden, aber es gab keine Aussicht mehr, sie lebend zu bergen.
Sie waren in eineinhalb Meilen Tiefe verschüttet.
Angella war den vergangenen Tag fortgewesen, und als sie und Jan spät am Abend zurückkehrten, waren sie so erschöpft, daß Kara nicht mehr mit ihr hatte reden können. Am nächsten Morgen ließ sie Kara jedoch schon eine Stunde vor Sonnenaufgang wecken und in die Wohnküche bringen.
Es war noch dunkel. Eine einzelne Kerze brannte und verbreitete weitaus mehr Schatten als Licht im Raum; und in der Luft hing der Geruch von würzigem Tee und frischem Brot. Angella sah so müde und erschöpft aus, als hätte sie in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen.
»Setz dich«, sagte sie und machte eine matte Handbewegung.
Kara gehorchte. Schweigend saß sie da und wartete, daß Angella etwas sagte, aber ihre Lehrmeisterin starrte sie nur an, mit einem Blick, der in weite Ferne gerichtet war, nur nicht auf Karas Gesicht. Schließlich brach Kara das Schweigen.
»Hat man... sie gefunden?« fragte sie leise.
Es dauerte eine Weile, bis Angella überhaupt auf die Worte reagierte. Sie blinzelte und schien Mühe zu haben, den Sinn von Karas Frage zu verstehen. »Nein«, entgegnete sie schließlich. »Wir haben... die Suche abgebrochen. Es war zu gefährlich.« Sie brach wieder ab, als die Tür aufging und einer von Jans Hornköpfen hereinkam, um ein weiteres Geschirr für Kara aufzutragen.
Kara verspürte ein rasches, eisiges Frösteln, als sich das vierarmige, schlanke Geschöpf neben ihr vorbeugte, um den Tisch zu decken. Seine Bewegungen waren ruckhaft und so abgehackt wie die einer Maschine. Alles, was Kara hörte, war ein wisperndes Rascheln, ganz wie leiser Wind in trockenem Laub. Sie schwiegen, bis der Diener das Zimmer wieder verlassen hatte, und obgleich der Anblick der Speisen schlagartig Karas Hunger weckte, zögerte sie einen Moment, danach zu greifen; einfach nur, weil es ein Hornkopf gewesen war, der sie aufgetragen hatte.
»Iß«, sagte Angella. Kara fuhr leicht zusammen. Sie erschrak darüber, daß Angella wieder einmal ihre Gedanken erraten hatte. Rasch griff sie zu und begann zu essen.
»Wir suchen später weiter«, knüpfte Angella nach einer Weile das unterbrochene Gespräch an. »Du wirst uns begleiten.«
Kara sah sie fragend an.
»Nimm es als eine Belohnung dafür, daß du mir gestern das Leben gerettet hast. Hätte man mich nicht gerufen, um die Wogen zu glätten, dann läge ich jetzt dort unten im Schacht.«
Sie trank einen Schluck Tee. »Außerdem habe ich diesem Trottel Elder mein Wort gegeben, dich nicht mehr aus dem Auge zu lassen, solange wir in der Stadt sind.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte Kara leise.
Angella lächelte plötzlich, allerdings nur sehr flüchtig. »Ich glaube dir«, sagte sie. »Aber ich habe Elder mein Wort gegeben. Und er hat recht, weißt du? Es war meine Schuld.« Sie schnitt Kara das Wort ab, ehe das Mädchen auch nur ein Wort sagen konnte. »Ich war zornig auf dich. Ich wollte dich bestrafen, und deshalb nahm ich dich gestern nicht mit. Wenn es also jemanden gibt, dem man etwas vorwerfen kann, dann bin ich es. Abgesehen davon«, fügte sie nach einer ganz kurzen Pause hinzu, »daß es bodenloser Leichtsinn von dir war, dich mit vier bewaffneten Männern gleichzeitig anzulegen.«
»Es waren nur vier«, sagte Kara. Es sollte ein Scherz sein, um die Stimmung aufzulockern, aber Kara spürte, schon während sie die Worte aussprach, daß ihre Worte nicht sonderlich klug gewesen waren. Der einzige Grund, aus dem Angella nicht sofort wieder auffuhr, war ihre Müdigkeit.
So sagte sie einfach nur: »Red keinen Unsinn. Sie waren zu viert, und du allein, oder? Du hättest getötet oder schwer verletzt werden können.«
Kara hatte während ihrer Ausbildung gelernt, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden. Doch Angella schien schon wieder zu ahnen, welche Entgegnung Kara auf der Zunge lag. »Du glaubst, du wüßtest, was ein Kampf bedeutet? Du weißt es nicht. Du hast gelernt, dich zu wehren. Du hast Hunderte von Zweikämpfen bestanden, aber keiner davon war wirklich ernst gemeint, Kindchen.«
Was diese Sache anging, war Kara entschieden anderer Meinung. Sie hatte mehr als genug Blessuren in den Zweikämpfen davongetragen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob es nicht weniger die Sorge um sie gewesen war, die Angella so zornig machte, sondern viel mehr um den immensen Wert, den sie darstellte. Ein Werkzeug, das sorgsam geschmiedet und zehn Jahre lang immer wieder geschliffen und poliert worden war. Fast gleichzeitig begriff sie, wie ungerecht dieser Gedanke war.