Angella schwieg entsetzt, während Kara endlich zu begreifen begann. »Ist das... ein Baum?« fragte sie fassungslos. »Du... du willst sagen, die ganze Brücke... der ganze Hochweg ist ein einziger Baum?!«
Einen Moment blickte Donay sie nur verwirrt an, erst dann schien ihm klar zu werden, daß Kara bisher gar nicht gewußt hatte, was sie da sah. Er sagte: »So etwas Ähnliches. Ich erkläre es dir später, aber im Moment können wir gern bei diesem Wort bleiben.«
»Wie lange noch?« flüsterte Angella. »Wieviel Zeit bleibt uns noch, bevor er... zusammenbricht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Donay. »Auf jeden Fall sehr viel weniger, als ich bisher geglaubt habe. Vielleicht ein Jahr, vielleicht auch zwei. Aber es können genausogut auch nur noch ein paar Tage sein.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, wie es unten aussieht.«
»Schlimmer«, murmelte Angella.
Donays Gesicht verdüsterte sich. »Diese Narren«, sagte er heftig. »Diese himmelschreienden Idioten! Ich habe sie gewarnt, ihn nicht so schnell wachsen zu lassen. Aber sie konnten ja nicht hören. Mehr, schneller und größer, das war alles, woran sie denken konnten! Aber jetzt kriegen sie die Quittung! Wäre es nicht so furchtbar, dann würde ich mich richtig auf ihre dummen Gesichter freuen, wenn ihnen der halbe Himmel auf den Kopf fällt!«
»Es ist noch nicht bewiesen, daß es daran liegt«, sagte Angella mit schleppender Stimme. Man hörte deutlich, wie schwer es ihr fiel, ihr Entsetzen niederzuringen. »Es kann alle möglichen Ursachen haben. Eine Krankheit, eine Vergiftung, das Alter...«
»Ja«, knurrte Donay. »Oder unten im Schlund sitzt eine große Maus und nagt an den Wurzeln.«
»Hast du mit dem Erinnerer gesprochen?« fragte Angella, die zu Karas Verblüffung Donays höchst unfreundliche Antwort nicht einmal zur Kenntnis genommen zu haben schien.
»Ich habe ihn die halbe Nacht mit allen Informationen gefüttert, die ich hatte«, erwiderte Donay. »Und die anderen auch. Ich weiß noch nicht, zu welchem Ergebnis er gekommen ist.«
Er trat an den Rand des Gerüstes, beugte sich gefährlich weit vor und schrie mit vollem Stimmaufwand: »Jemand soll Irata bringen! Wir kommen herunter!«
Der Abstieg gestaltete sich wesentlich schwieriger als der Weg hinauf. Die Leiter zitterte unter ihrem Gewicht, und jetzt, da Kara wußte, daß die Unerschütterlichkeit des riesigen Stammes eben Schein war, glaubte sie noch ein anderes, mächtigeres Vibrieren zu spüren, das selbst die Luft rings um sie herum zum Erzittern brachte.
Die Tür flog auf, und Jan stürmte herein, kaum, daß Kara den Fuß der Treppe erreicht hatte. Sein Gesicht flammte vor Zorn.
»Dieser Idiot!« brüllte er. »Dieser verdammte, sture Hornochse!«
»Elder?« fragten Angella und Donay wie aus einem Mund.
Jan nickte, während er heftig auf die Tür hinter sich gestikulierte. »Er will uns nicht erlauben, Gräber einzusetzen.«
»Aber wir brauchen Tage, um die verschütteten Gänge mit der Hand zu räumen!« sagte Donay erschrocken.
»Erklär das Elder!« fauchte Jan. »Er weiß es genausogut wie du, aber er meint, es wäre sowieso sinnlos, weil eure Männer keine Chance mehr hätten, noch am Leben zu sein! Und er behauptet, das Verbot, andere in dieses Viertel hineinzulassen, erstreckte sich ja auch auf Gräber. Er muß erst seinen vorgesetzten Offizier fragen. Und den kann er erst am Mittag erreichen?«
»Und was ist das da?« fragte Kara mit einer Geste auf einen Hornkopf, der beladen mit einem Korb voller Werkzeuge an ihnen vorüberwankte.
Jan zuckte wütend mit den Schultern. »Das habe ich ihn auch gefragt. Er behauptet, sie hätten eine Sondergenehmigung, und wir könnten ja versuchen, eine für unsere Gräber zu bekommen! Ich hätte nicht übel Lust, ihm seine verdammten Genehmigungen und Vorschriften in den Hals zu stopfen!«
»Laß es gut sein«, sagte Angella. Sie legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wahrscheinlich hat er recht. Sie sind wahrscheinlich längst tot.«
»Ja. Und wenn nicht, dann sterben sie eben, während wir Formulare ausfüllen«, knurrte Jan.
»Es ist meine Schuld«, sagte Kara leise. »Das ist seine Rache für das, was gestern geschehen ist.« Weder Angella noch Jan taten ihr den Gefallen, ihr zu widersprechen, und so fügte sie nach einem Augenblick hinzu: »Ich gehe und versuche, mit ihm zu reden.«
»Den Weg kannst du dir sparen«, sagte eine Stimme hinter ihr, und als sie sich herumdrehte, blickte sie in Elders Gesicht. »Du beleidigst mich, Kara. Glaubst du wirklich, ich würde das Leben eines Menschen riskieren, nur um mich bei dir zu rächen?«
Er sah sie einen Moment fast traurig an, dann wandte er sich an Jan, und ein fast spöttisches Glitzern erschien in seinen Augen. »Das gilt im übrigen auch für Euch, Jan. Ich halte mich an meine Befehle, weil ich es muß. Mißachte ich sie, nur um Euch einen Gefallen zu tun, so würde man mich sehr schnell abkommandieren, und Ihr hättet es vielleicht mit einem Mann zu tun, der sehr viel weniger Verständnis für Eure Probleme aufbringt.«
Jan starrte ihn zornig an und schwieg, aber Donay ergriff erregt das Wort:
»Ihr wißt nicht, worum es hier geht?« sagte er. »Selbst wenn Ihr recht habt und diese Männer schon tot sind, so brauchen wir die Gräber dringend. Wir müssen nach unten, so schnell wie möglich!« Er deutete zum Pfeiler hinauf. »Es ist viel schlimmer, als wir bisher angenommen haben.«
Elder blickte einen Moment in die Höhe und schien nachzudenken. Er seufzte. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, sagte er. »Das verspreche ich. Aber ich habe meine Befehle. Ich lege sie ohnehin schon so großzügig aus, wie ich nur kann.« Er deutete auf eine Gestalt, die, begleitet von einem Hornkopf, hinter Jan aufgetaucht war. »Schon seine Anwesenheit hier verstößt im Grunde gegen die Vorschriften.«
Kara registrierte die Gestalt erst jetzt. Das mußte Irata sein.
Der leere Blick und der idiotische Gesichtsausdruck identifizierte ihn eindeutig als Erinnerer. Kara hatte bisher nur eine einzige dieser lebenden Denkmaschinen gesehen, aber natürlich eine Menge über sie gehört: schwachsinnige Idioten, die so blöd waren, daß man sie füttern und ihnen die Hände binden mußte, damit sie sich nicht selbst die Augen auskratzten, aber sie waren mit einem Gehirn ausgestattet, das nicht die winzigste Kleinigkeit vergaß und binnen Momenten Beziehungen zwischen den erhaltenen Informationen herstellen konnte, für die ein normaler Mensch Monate, wenn nicht Jahre gebraucht hätte.
»... Euch ja keine Schwierigkeiten machen«, drang Elders Stimme in Karas Gedanken. Es war nicht das, was er sagte, sondern die Art, wie er es tat, die sie aufhorchen ließ. Sie riß ihren Blick von Irata los und konzentrierte sich wieder auf Elder, der abwechselnd Angella und Jan ansah und dann mit einer fast resignierenden Geste auf den Erinnerer wies. »Ich verrate Euch kein Geheimnis, wenn ich Euch sage, daß es eine Menge Leute in der Stadt gibt, die dagegen waren, Euch überhaupt zu rufen. Nach dem, was gestern geschehen ist, würde vielleicht schon sein Anblick reichen, ihnen Anlaß zu geben, um Euch vollends aus der Stadt zu weisen, Angella. Und Euch gleich mit, Jan.«
Angella und Jan antworteten nicht, aber Kara las auf ihren Gesichtern, daß es ihnen ebenso erging wie ihr selbst: fast zu ihrer eigenen Überraschung glaubten sie Elder plötzlich, daß er es ehrlich meinte.
Nach einer Weile sagte Donay: »Es geht nicht darum, ob uns Eure Regeln gefallen, Elder. Die Sicherheit der ganzen Stadt steht auf dem Spiel. Besonders die der Leute, die so wenig begeistert von Angellas Anwesenheit sind.«
»Wie meinst du das?« fragte Elder. Es gelang ihm nicht ganz, seinen Schrecken zu verbergen.