Endlich setzten die Transporter sie auf einem vorstehenden Sims ab, der ihr aber alles andere als einen festen Halt bot.
Unter Karas Gewicht lösten sich kleinere Felsbrocken. Sie aber atmete hörbar auf, als sich der Griff der dünnen, vielgelenkigen Beine von ihrer Brust löste. Schaudernd legte sie den Kopf in den Nacken und sah zu, wie die drei Transporter mit phantastischer Geschicklichkeit an ihren eigenen Fäden in die Höhe kletterten. Nach wenigen Augenblicken waren sie in der Dunkelheit verschwunden.
»Eine widerwärtige Art zu reisen«, sagte Jan. »Aber recht praktisch.«
»Vor allem verschafft sie uns den nötigen Vorsprung, den wir brauchen, falls Elder eher zurückkommt, als er versprochen hat. Er wird Stunden brauchen, um zu Fuß hier herunterzukommen.«
Sie lachten, dann gab Angella ein Zeichen, weiterzugehen, und sie setzten den Abstieg fort. Trotz allem lag noch ein gutes Stück Weg vor ihnen, das sie über Schutthalden, Trümmer und halbvermoderte Balken führte. Es war beinahe taghell, denn die Leuchtbakterien hatten hier unten buchstäblich jeden Winkel erobert. Nach einer Weile klebten sie an ihren Schuhen, und auch ihre Hände waren voller Staub, der blau leuchtete.
Schließlich erreichten sie den Boden des Schachtes. Die Mauern waren zusammengebrochen und bildeten eine unüberwindliche Barriere überall um sie herum. Kara fröstelte leicht, aber das lag nicht nur am Anblick der ineinandergestürzten Felsmassen und zerborstenen Balken. Ganz plötzlich wurde ihr klar, daß sie nicht nur einfach eine Meile tief in die Eingeweide der Stadt vorgedrungen waren, sondern zugleich auch so etwas wie eine Reise durch die Zeit unternommen hatten. Die zerbrochenen, unter ihrem eigenen Gewicht zu Staub zermahlenen Mauern vor ihnen gehörten zu den ältesten Teilen der Stadt. Die zerbrochenen Balken waren vor zweihunderttausend Jahren geschlagen und verarbeitet worden, von Menschen, von denen nicht einmal mehr Staub geblieben war. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Wenn Zeit wirklich nichts weiter als ein abstrakter Begriff war, wie Angella immer behauptete, dann war es der einzige abstrakte Begriff, der ein Gewicht hatte.
Angella deutete nach links, und Kara erkannte den Eingang zu einem niedrigen, offensichtlich erst vor kurzer Zeit erbauten Tunnel. Die Bakterien hatten die Steine noch nicht vollständig überwuchert.
Hintereinander drangen sie in den Stollen ein. Er war dunkel und so niedrig, daß sie nur gebückt gehen konnten. Sehr weit vor ihnen befand sich ein münzgroßer Fleck grünlicher Helligkeit, aber der Gang selbst war von absoluter Schwärze erfüllt. Ein unheimlicher Anblick waren Jans blauleuchtende Schuhsohlen und Hände, die sich vor Kara in der Dunkelheit bewegten.
Nach einer Weile spürte sie, wie der Gang größer wurde. Behutsam richtete sie sich im Gehen auf; sie stieß nicht mit dem Kopf gegen die Decke, wie sie fürchtete. Der Boden unter ihren Füßen war nicht mehr so holprig. Wahrscheinlich befanden sie sich mittlerweile in einem der alten Kellergewölbe Schelfheims. Immerhin war die Stadt anderthalb Meilen tief in den Boden gesunken.
Plötzlich glaubte sie ein Geräusch zu hören und blieb stehen.
Angella prallte gegen sie und hätte sie fast von den Füßen gerissen.
»Was ist los?« fragte sie verärgert. Sie kannte Kara allerdings gut genug, um zu wissen, daß sie nicht aus einer puren Laune heraus einfach stehenblieb.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete Kara. Das Echo ihrer eigenen Stimme verriet ihr, daß sie sich nicht mehr in einem Stollen, sondern in einem sehr großen Raum befanden. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«
»Unsinn!« sagte Angella, aber Jan berichtigte sie.
»Natürlich hat sie etwas gehört. Diese Keller sind nicht leer.«
»Wer... lebt denn hier?« fragte Kara zögernd.
»Es gibt alle möglichen Untiere hier unten. Aber die meisten sind ungefährlich. Sie haben genug damit zu tun, sich gegenseitig aufzufressen.«
»Hör mit dem Unsinn auf«, sagte Angella streng und ging weiter. Kara folgte dem Geräusch ihrer Schritte im Dunkel, aber sie ertappte sich mehrmals dabei, im Gehen den Kopf zu wenden und die Schwärze hinter sich mit Blicken zu durchbohren.
Sie hörte nichts mehr, aber sie hatte immer noch das Gefühl, angestarrt zu werden. Und sie war nicht sicher, ob es wirklich ein Tier war, das sie belauerte...
Verärgert auf sich selbst verscheuchte sie den Gedanken.
Wieso war sie nur so nervös? Was war denn schon dabei, durch ein zweihunderttausend Jahre altes Kellergewölbe zu marschieren, das unter zehn Millionen Tonnen Erdreich und Gestein lag und jeden Moment zusammenbrechen konnte?
Ihr Zeitgefühl kündigte ihr angesichts der stygischen Schwärze und ihrer eigenen Furcht den Dienst auf, so daß sie nicht sagen konnte, wie lange es dauerte, bis der Lichtfleck vor ihnen allmählich größer wurde. Sie hörte Grab- und Klopfgeräusche und die Stimmen zahlreicher Männer.
Schließlich betraten sie eine große, von Hunderten grüner Leuchtstäbe erhellte Höhle, die sich auf den zweiten Blick als das Innere eines versunkenen Hauses entpuppte. In den Wänden befanden sich Fenster von ungewöhnlicher Form und Größe, die ebenso wie die offenstehende Tür auf eine Welt aus Erdreich und Sand hinausführte. Das hintere Drittel der Decke war zusammengebrochen. Die Männer, die sie sah, arbeiteten an einem halbrunden Tunnel, den sie schon etliche Meter tief in den Schuttberg vorgetrieben hatten. Kara blieb verblüfft stehen, als sie zwischen den vordersten Männern die schwarzglänzenden Rückenschilde von gleich drei Gräbern gewahrte. Die gewaltigen, zu perfekten Grabinstrumenten umgeformten Unterkiefer der riesigen Käfergeschöpfe fraßen sich mit fast maschinenhafter Gleichmäßigkeit in die Erde, wobei sie ohne Unterschied Sand, Felsen, Holz und überhaupt alles zerkleinerten, worauf sie stießen.
Angella weidete sich einen Moment lang an Karas verblüfftem Gesichtsausdruck. »Was Elder nicht weiß, macht Elder nicht heiß, nicht wahr?« sagte sie augenzwinkernd.
»Aber wie habt ihr sie hierherbekommen, ohne daß er es gemerkt hat?« fragte Kara.
»Seine Männer können vielleicht alle Straßen kontrollieren«, antwortete Jan an Angellas Stelle, »aber unmöglich alle unterirdischen Verbindungen. Das hier unten ist eine Stadt unter der Stadt. Manchmal frage ich mich, ob das hier nicht das eigentliche Schelfheim ist, und nicht das, was wir dafür halten.«
»Auf jeden Fall wäre Elder mißtrauisch geworden, wenn wir nicht nach den Gräbern gefragt hätten«, fügte Angella hinzu.
»Er ist nicht dumm.« Sie erklärte das Thema mit einer Handbewegung für beendet und wandte sich an einen der arbeitenden Männer. Kara trat einen Schritt zurück und sah sich unschlüssig um. Es gab nichts für sie zu tun. Sie war sicher, daß Angella sie nicht zum Graben mit hinuntergenommen hatte. Was sie zu der Frage brachte, weshalb sie überhaupt hier war. Sicher nicht nur, damit Angella sie immer in ihrer Nähe wußte und sie nicht aus purem Übermut wieder die halbe Stadtgarde verdrosch.
Aber weshalb dann?
Ihre Augen hatten sich inzwischen an das grüne Licht gewöhnt, so daß sie mehr von ihrer Umgebung erkennen konnte. Bedachte man sein Alter, so befand sich der Raum in erstaunlich gutem Zustand. Seine Bewohner hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihn völlig leerzuräumen, als der Tag gekommen war, ihn aufzugeben und in das neue, darüber errichtete Stockwerk umzuziehen. Das eine oder andere hatten sie einfach stehengelassen, vielleicht aus Gedankenlosigkeit, vielleicht, weil sie es ebenso wie ihr Heim neu und größer gebaut hatten. Ein Stuhl, eine Truhe ohne Deckel und Inhalt, ein Tisch, von dessen Platte ein Stück abgebrochen war. Es waren alltägliche Dinge, die allerdings schon vor zwei oder drei Ewigkeiten zu Stein geworden waren. Und alles war sehr... seltsam.