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»Gebraucht? Wozu? Der letzte Überfall liegt acht Jahre zurück!«

»Und der nächste findet vielleicht morgen statt«, fügte Angella hinzu. »Doch genug. Ich bin nicht hierhergekommen, um unseren Streit von gestern abend fortzusetzen.« Sie machte eine befehlende Geste und ergriff dann ihren schweren Samtumhang. »Ich werde nicht ewig leben, Kara. Irgendwann einmal wirst du diesen Mantel tragen, und dann wird dein Wort Gesetz sein, so wie es jetzt das meine ist. Dann kannst du tun und lassen, was immer du willst. Doch bis es so weit ist, befehle ich in diesem Lager, und du wirst mir gehorchen. So einfach ist das.«

Kara begriff, daß sie nicht mehr mit ihrer mütterlichen Freundin sprach, die Frau, die ihr jetzt gegenüberstand, war Herrscherin, Älteste und Königin der Drachenreiter, und sie würde keinerlei Widerspruch mehr dulden. Also schwieg Kara und unterdrückte die unfreundliche Erwiderung, die ihr in den Sinn gekommen war. Ihr Gesicht war unbewegt und starr wie ein Stein. Demütig senkte sie das Haupt.

»Um den Grund meines Kommens zu nennen«, fuhr Angella im gleichen, fast kalten Ton fort. »Ich verlasse die Festung bereits morgen. In Schelfheim haben sich Dinge ergeben, die es nötig machen, meine ohnehin geplante Reise vorzuverlegen. Ich werde also nicht an der Abschiedsfeier teilnehmen können. Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du mich begleiten willst.« Sie gab Kara keine Gelegenheit zu antworten. »Überlege dir gut, was du sagst. Natürlich wirst du ablehnen, denn du bist zornig und verbittert. Deswegen werde ich ein Nein jetzt ebensowenig akzeptieren wie ein Ja. Wir brechen morgen früh bei Sonnenaufgang auf. Wenn du mitkommen willst, erwarte ich dich dann.«

In Kara wallte schon wieder Zorn auf. Angella schien sie so leicht zu durchschauen, als wäre sie aus Glas. Schelfheim...

Der Gedanke war verlockend, denn obwohl die riesige Stadt am Rande der Welt nicht einmal besonders weit entfernt lag - zumindest für jemanden, der Entfernungen mit den Flügelschlägen eines Drachen maß -, war sie noch niemals dort gewesen, denn die Drachenreiter mieden die großen Städte.

Schließlich schüttelte Kara den Kopf. »Markor ist noch nicht so weit«, sagte sie und wußte, daß es eine Ausrede war.

»Wir werden nicht mit den Drachen reisen«, entgegnete Angella. »Ich will Schelfheim einen Besuch abstatten - nicht eine Panik auslösen.«

Kara wiederholte ihr Kopfschütteln. »Das würde Wochen dauern. Ich... will ihn nicht so lange allein lassen.«

»Unsinn!« sagte Angella. »Er ist ein zweihundert Jahre alter Drachenbulle. An dem einzigen, was ihn im Moment an einem weiblichen Wesen interessiert, hättest du sicherlich nicht viel Freude. Außerdem fehlen dir einige körperliche Voraussetzungen dafür.«

Kara starrte Angella verblüfft an - und spürte zu ihrer eigenen Überraschung, wie ihr die Schamröte ins Gesicht schoß.

»Zum Beispiel ein Paar fünfzig Meter messende Flügel«, fuhr Angella lachend fort. »Oder woran hast du jetzt gedacht?«

Und plötzlich und gegen ihren Willen mußte auch Kara lachen. Natürlich würde sie Angella am nächsten Morgen nach Schelfheim begleiten.

2

Schelfheim zu beschreiben war eine mehr als schwierige Aufgabe. Wie soll man eine Stadt beschreiben, die ihr Aussehen alle zehn Jahre so gründlich veränderte, daß selbst ihre Bewohner nach längerer Abwesenheit Schwierigkeiten hatten, sich wieder zurechtzufinden? Abgesehen davon, daß ein großer Teil der Stadt in fast regelmäßigen Abständen niederbrannte, versank der Rest allmählich im Boden, so daß es mit einer Ausnahme nicht ein Gebäude in Schelfheim gab, dessen Höhe nennenswert mehr als zehn Meter betrug. In regelmäßigen Abständen räumten die Bewohner der Stadt die unteren Stockwerke ihrer Häuser und fügten oben ein neues an, was zu dem reichlich absurden Effekt führte, daß mehr als neun Zehntel der Stadt mittlerweile unter der Erde lagen.

Die Stadt war groß, unvorstellbar groß. Kara hatte Bilder von Schelfheim gesehen und viel von der größten und erstaunlichsten Stadt der Welt gehört. Aber weder Bilder noch Worte hatten sie auch nur im entferntesten auf das vorbereiten können, was Schelfheim wirklich war: ein Moloch.

Das Meer aus Stein breitete sich unter ihr aus, soweit ihr Blick reichte. Angella hatte ihr erzählt, daß an die zwei Millionen Menschen... nun ja: Geschöpfe in dieser Stadt lebten, und sie hatte diese Zahl hingenommen, ohne sie wirklich zu verstehen.

Jetzt begann sie zumindest zu ahnen, was sie bedeutete.

»Beeindruckend, nicht?« fragte Angella.

Sie hatten einen Steinwurf vor der Brücke haltgemacht, um sich und ihren Pferden eine letzte Rast vor dem Ritt hinunter in die Stadt zu gönnen und um den beeindruckenden Anblick der Stadt zu genießen. Beeindruckend? Nun ja - die Stadt machte Eindruck auf Kara. Sie war nur nicht sicher, ob es die Art Eindruck war, die Angella beabsichtigt hatte.

Sie zuckte mit den Schultern und führte ihr Pferd näher zu Angella. Die Verständigung gestaltete sich in diesem unwegsamen Gelände recht schwierig. An den steil aufragenden Klippen brach sich ein heulender Sturmwind, dessen Getöse niemals nachließ. Darüber hinaus aber suchte Kara auch Angellas Nähe, weil sie sich angesichts dieser ungeheuerlichen Stadt dort unten klein und verloren und unsagbar hilflos vorkam. Ihre Hände zitterten, und sie ergriff die Zügel fester als nötig, um es zu verbergen.

Angella wartete einige Augenblicke lang vergeblich auf eine Antwort, dann warf sie Kara einen raschen, amüsierten Blick zu, zuckte mit den Schultern und ritt weiter. Hinter ihr und Kara setzte sich auch der Rest des Trupps wieder in Bewegung.

Hrhon nicht mitgerechnet, der breitbeinig auf einem für einen Waga viel zu kleinen Pferd hockte, zählten sie zweiundzwanzig, und elf von ihnen waren ausgebildete Drachenkämpfer in voller Rüstung. Zu Karas Bedauern hatte Angella ihnen befohlen, ihre Waffen zu verbergen und sich in weite Umhänge zu hüllen, die nicht nur für die Jahreszeit viel zu warm waren, sondern sie auch wie eine bunt zusammengewürfelte Wandertruppe aussehen ließen. Kara hatte sich diesem Befehl nur widerwillig gefügt. Sie war stolz auf das, was sie war, und sie sah nicht ein, daß sie ihre Identität verbergen sollte.

Sie ritten ein Stück auf die Brücke hinaus, ehe sie auf die erste Barriere stießen: eine mannshohe Wand aus eisenverstärkten Bohlen, die auf wuchtigen Rollen gelagert war, so daß man sie zur Seite schieben mußte, wenn man passieren wollte. Eine kleine Tür öffnete sich in der Barriere, und ein fettleibiger, in schmuddelige Lumpen gekleideter Mann trat zu ihnen heraus.

Sein Gesicht war schmutzig, und er wirkte unausgeschlafen. In der rechten Hand trug er einen Packen kleiner gelber Blätter und einen Kohlestift. Gelangweilt betrachtete er die Gruppe und schien dann Angella als Führerin auszumachen, denn er schlurfte mit hängenden Schultern auf sie zu.

»Wie viele?« fragte er.

»Wie viele - was?« gab Angella zurück.

»Wie viele ihr seid.« Der Schmuddelige seufzte tief und gequält, hob den Kopf - und blinzelte überrascht, als er in Angellas Gesicht sah. Angella hatte, kurz bevor sie die Brücke erreichten, die goldene Halbmaske wieder aufgesetzt, so daß er von ihrem Gesicht nur die unversehrte linke Hälfte ihres Mundes erkennen konnte. »He!« sagte er. »Was ist das?«

Angella zuckte kaum merklich zusammen. Sie wurde zunehmend empfindlicher, was Anspielungen auf ihr zerstörtes Gesicht anging, je älter sie wurde. Kara hatte selbst gesehen, wie sie wegen einer harmlosen Bemerkung einem Mann den Arm gebrochen hatte.

»Wie du siehst, trage ich eine Maske - genau wie du«, entgegnete sie unfreundlich. »Nur kann ich meine mit einem Handgriff abnehmen, während du deine herunterwaschen müßtest.«