»Ach?« machte Angella herausfordernd. »Und was wäre das?«
»Daß es sich genauso verhält, wie ich schon vor drei Tagen vermutet habe«, antwortete Gendik an Rusmans Stelle. »Die Männer, die Euch überfallen haben, waren ganz gewöhnliche Straßenräuber. Gesindel, dem Ihr durch einen unglücklichen Zufall in die Hände gefallen seid. Ein paar von den Toten sind uns wohlbekannt. Mörder und Diebe, um die es nicht schade ist. Von der großen Verschwörung, der Ihr auf die Spur gekommen zu sein glaubt, haben wir nichts gefunden.«
»Mörder und Diebe?« wiederholte Angella ungläubig. »Eine ziemlich große Mörderbande, nicht wahr?«
»Schelfheim ist eine große Stadt«, antwortete Gendik. »Und Ihr wart in einer üblen Gegend. Seht Ihr - es hat seine Gründe, daß wir manche Viertel nur für Menschen freigeben.«
»Die allermeisten von ihnen waren Menschen«, wandte Kara ein.
»Und sie waren ziemlich gut ausgerüstet für eine Mörderbande«, fügte Angella hinzu. Erstaunlicherweise verzichtete sie darauf, Kara mit einem neuerlichen Blick wieder zum Schweigen zu bringen, sondern wies statt dessen beinahe anklagend auf Elder. »Sie hatten einen Dämpfer, Gendik!«
»Nein, das hatten sie ganz bestimmt nicht«, sagte Rusman. »Ich habe Hauptmann Elders Waffe untersuchen lassen. Sie war defekt, ein Materialfehler, mehr nicht.«
Elder wirkte verblüfft, fast erschrocken. Er nickte zwar, als Rusman ihn auffordernd ansah, aber es wirkte nicht sehr überzeugend.
Angella hob spöttisch die Brauen. »Und sein Sender? Wieso funktionierte der nicht?«
»Ein weiterer Defekt«, sagte Rusman achselzuckend. »So etwas kommt vor.«
»Im gleichen Moment?«
»Ein Zufall.« Rusman gab sich nicht einmal die Mühe, überzeugend zu lügen.
»Dann war es sicher auch ein Zufall, daß auch mein Rufer nicht funktionierte, wie?« fragte sie herausfordernd. »Ich habe hinterher mit Weller gesprochen. Sein Tier hat nichts empfangen. Etwas hat die Gedankenwellen des Tieres blockiert.«
»Ihr tragt einen Rufer?« fragte Rusman. »Ihr wißt, daß diese Tiere in Schelfheim verboten sind.«
Angella lachte böse. »Dann legt mich doch in Ketten«, erwiderte sie.
Rusman blieb ernst. »Zwingt mich nicht dazu, es wirklich zu tun, Angella«, sagte er. »Es könnte sein, daß mir keine andere Wahl bleibt. Und sei es zu Eurem eigenen Schutz.«
»Wie rührend«, sagte Angella. »Das habe ich noch nie gehört.«
»Aber ich meine es ernst«, antwortete Rusman. »Seht Ihr, Angella - in einem habt Ihr recht. Es gibt sehr wohl noch eine andere Erklärung für den Überfall auf Euch. Aber sie wird Euch noch viel weniger gefallen als die erste.«
»So?« Angella bewegte sich nervös.
»Die Menschen hier fürchten Euch«, sagte Rusman. »Und daher hassen sie Euch. Ihr und Eure Begleiter seid nicht willkommen in Schelfheim.«
»Bei niemandem, nehme ich an«, sagte Angella. »Nicht einmal bei Euch.«
»Nein«, sagte Rusman mit überraschender Offenheit. »Gerade bei mir nicht, denn ich bin für die Sicherheit dieser Stadt verantwortlich. Wir sind jedoch zivilisiert genug, nicht gleich ein Schwert zu nehmen und jeden, den wir nicht mögen, zu erschlagen. Wie Ihr leider erfahren mußtet, gilt das nicht für alle Einwohner dieser Stadt.«
»Der Mann, gegen den ich gekämpft habe, war nicht aus Schelfheim«, sagte Kara.
Sie hätte sich am liebsten im gleichen Moment auf die Zunge gebissen, aber da war es schon zu spät. Alle starrten sie an.
Angella wirkte ziemlich wütend.
»Wie meinst du das?« fragte Rusman mißtrauisch.
»Es war... nur so ein Gefühl.« Kara druckste einen Moment herum. »Etwas an ihm war fremd. Ich kann es nicht genauer beschreiben.«
»Unsinn!« sagte Gendik, aber Rusman brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
»Sprich weiter, Mädchen«, sagte er. »Wie meinst du das?«
»Was sie meint«, drängte sich Angella in das Gespräch, »ist, daß dieser Mann ganz bestimmt kein dahergelaufener Halsabschneider war. Kara ist eine Drachenkämpferin, Rusman. Vielleicht die beste, die ich je ausgebildet habe. Und dieser Fremde hat sie besiegt?«
Kara fuhr zusammen, und Angella warf ihr einen um Verzeihung bittenden Blick zu, bevor sie fortfuhr: »Vor ein paar Tagen hat sie vier Eurer Soldaten niedergeschlagen, Rusman, ohne sich sonderlich dabei anzustrengen. Und dieser Halsabschneider, wie Ihr ihn nennt, hätte sie um ein Haar getötet.«
»Ich dachte, sie hätte den Kampf gewonnen«, antwortete Rusman.
»Das hat sie. Aber nur durch einen ziemlich schmutzigen Trick, über den ich noch mit ihr reden werde. Er war besser als Sie.«
»Und das verletzt Euren Stolz, nicht wahr?« Gendik schnaubte. Angella wollte auffahren, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das führt zu uns, Angella. Unsere Entscheidung ist ohnehin gefallen. Rusman und ich sind hergekommen, um sie Euch persönlich mitzuteilen.«
»Was für eine Entscheidung?« fragte Angella eine Spur zu hastig.
»Die Entscheidung, daß wir Euch bitten möchten, die Stadt zu verlassen«, antwortete Rusman.
Angella starrte ihn an. Sie sagte nichts.
»Ich könnte es Euch befehlen«, sagte Rusman, »und ich werde es, wenn Ihr mich dazu zwingt. Aber es wäre mir lieber, wenn Ihr es nicht tätet. Schelfheim hat sich verändert, Angella. Es ist nicht mehr die Stadt, über die Ihr einst als Anführerin einer Räuberbande herrschtet. Und es ist auch nicht mehr die Stadt, die sich der Gewalt von Jandhis Drachenschwestern gebeugt hat. Ihr könnt hier nicht mehr leben.« Er wies mit einer Geste, die frei von jeder Anklage war, auf Kara und Hrhon. »In nur drei Tagen, die Ihr hier wart, habt Ihr zweimal fast einen Bürgerkrieg entfesselt. Was wird als nächstes passieren? So hart es klingen mag, aber wir können uns Gäste wie Euch nicht leisten. Bitte geht.«
»Und wann?« fragte Angella.
»Am liebsten sofort. Aber ich will nicht unhöflich sein. Morgen bei Sonnenaufgang ist früh genug. Ich lasse die Posten am Hochweg informieren, damit Ihr passieren könnt.«
»Wie großzügig«, spottete Angella. »Und Ihr ladet uns sicherlich noch zu einem üppigen Frühstück in Eurem Palast ein - wenn wir darauf bestehen, nicht wahr?«
»Eure Verbitterung ist verständlich«, sagte Rusman. »Aber sie hilft uns nicht weiter.«
»Und... und der Hochweg?« fragte Angella. Sie war sichtlich aus der Fassung gebracht. Kara erinnerte sich nicht, sie jemals so hilflos gesehen zu haben. »Der Stamm? Ist es Euch völlig gleichgültig, was mit dem Stamm geschieht? Er ist krank. Er wird zusammenbrechen!«
»Kaum«, erwiderte Gendik.
Angella funkelte ihn wütend an. »Ihr wart nie dort unten!« sagte sie aufgebracht. »Ihr habt ihn nicht gesehen. Aber ich habe ihn gesehen, und glaubt mir, was ich gesehen habe, das hat mich mit Entsetzen erfüllt! Er stirbt! Er ist fast schon tot.«
»Dieser eine vielleicht. Aber der Stamm hat Hunderte von Trieben.«
»Und wenn sie alle krank sind? Donay sagt...«
Gendik unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Donay ist ein zorniger junger Mann. Glaubt mir, wir sind uns des Problems durchaus bewußt und arbeiten daran. Und wir haben gute Spezialisten für solch eine Aufgabe.«
Angella seufzte tief und schwieg, und Rusman sagte fast sanft: »Ich verstehe Eure Gefühle, Angella. Und bitte, glaubt mir - könnte ich so handeln, wie ich wollte, würde ich Euch bestimmt nicht bitten zu gehen. Aber ich kann nicht anders. Ich bin für Ruhe und Sicherheit in dieser Stadt verantwortlich.«
»Ich glaube Euch«, murmelte Angella. Sie lachte bitter. »Ich glaube Euch. Und vielleicht ist das gerade das Schlimme.«
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