Irgendwie schafften sie es, die Barriere zu erreichen, an der sie vor drei Tagen schon einmal fast gescheitert waren. Diesmal wurde das Hindernis von gleich einem Dutzend Soldaten und dreimal so vielen Hornköpfen bewacht.
Was allerdings auch bitter nötig war.
Hunderte, wenn nicht Tausende von Gestalten drängten gegen die hölzerne Wand, und der Lärm war so unbeschreiblich, daß sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnten. Kara signalisierte Hrhon mit Gesten, sich irgendwie einen Weg zu bahnen. Am Ende einer Gasse aus geprellten Rippen, ausgekugelten Armen und blutigen Nasen und Zehen erreichten sie das Tor - und Karas Herz machte einen erschrockenen Satz, als sie über einem der papageiengelben Mäntel ein Gesicht erblickte, das sie nur zu gut kannte. Vor gut drei Tagen hatte sie dieses Gesicht mit ihrem rechten Fuß ein wenig unsanft traktiert. Der Soldat schien sich ebensogut an sie zu erinnern, denn sein noch immer geschwollenes Gesicht verdüsterte sich. Aber dann hob er zu Karas Überraschung die Hand und gab ein Zeichen, sie und Hrhon durch das Tor zu lassen.
»Verdammt!« murmelte Kara. »Ich habe keine Zeit, mich jetzt mit diesen Idioten herumzuschlagen!« Finster blickte sie dem Gardesoldaten entgegen, der mit wehendem Mantel auf sie zugeeilt kam. Sie spannte sich. Sie hatte nicht vor, sich lange von diesen Operettensoldaten aufhalten zu lassen.
Aber der Mann begann plötzlich aufgeregt hinter sich zu gestikulieren, wo Kara zwei aufgezäumte Pferde erblickte. »Los doch!« brüllte er. »Macht, daß ihr weiterkommt, ehe hier der Teufel ausbricht. Diese verdammte Bande wartet doch nur auf einen Vorwand, die Sperre zu stürmen!«
Kara war ziemlich überrascht, aber sie verschwendete keine Zeit mit überflüssigen Fragen, sondern stieg in den Sattel und wartete ungeduldig, bis auch Hrhon ungeschickt auf den Rücken des Pferdes geklettert war. Wahrscheinlich hatte Angella Befehl gegeben, sie und den Waga durchzulassen.
Sie sprangen los. Ganze Trupps von Soldaten und Hornköpfen kamen ihnen entgegen, manche voller frischer Kraft, andere verdreckt und erschöpft. Sie passierten einen von zwei Pferden gezogenen Wagen, auf dem ein halbes Dutzend Verletzter auf blutigen Laken lag. Dann entdeckten sie die ersten wirklichen Spuren der Katastrophe: Vor ihnen gähnte ein gewaltiges Loch in der Straße. Vier oder fünf Häuser waren in die Tiefe gestürzt.
Kara blickte schaudernd in das dunkle Loch hinab. Unheimliche Geräusche drangen aus der Tiefe: ein beständiges Rasseln und Schleifen, das gelegentliche Poltern eines Steins, das Rieseln von Sand und Kies. Dann legte Kara den Kopf in den Nacken und sah auf. Hrhon hatte übertrieben: Der Hochweg war nicht umgefallen. Er erhob sich noch immer über den Dächern Schelfheims, und er wirkte nicht einmal schwer beschädigt. Zwei oder drei seiner Beine waren abgebrochen und zu Boden gestürzt. Kara erspähte darüber hinaus mehr oder weniger große Risse in der Brücke; hübsch anzusehende Flecke, durch die das Licht der Morgensonne schien. Wenn man genauer hinsah, erkannte man, daß ein vielleicht zwei Meilen langes Teilstück der zyklopischen Konstruktion in sich verbogen und verzogen war; ein Wunder, daß es noch hielt.
Trotzdem war das Unglück entsetzlich genug; ein tödlicher Regen aus Stein und Holz, der völlig warnungslos aus dem Himmel fiel. Kara dachte an die Häuser und Verschläge, die sie oben auf der Brücke gesehen hatte, und sie fragte sich, auf welcher Seite es wohl mehr Tote gegeben hatte - hier unten oder dort oben.
»Ich schätze, die Grundstücke unter der Brücke werden in Zukunft nicht mehr ganz so heiß begehrt sein wie bisher«, sagte sie. »Komm - beeilen wir uns. Angella wird bestimmt nicht auf uns warten.« Sie wollte auf jeden Fall dabeisein, wenn Angella in die Tiefe herabstieg, um sich die Schäden am Trieb aus der Nähe anzusehen.
Hrhon schaute sie auf eine sonderbare Weise von der Seite her an, aber Kara achtete nicht darauf, sondern trieb ihr Pferd an. Rings um den riesigen Krater herrschte eine hektische Aktivität. Seile und Leitern wurden in die Tiefe gelassen, und Männer und Hornköpfe stiegen auf der Suche nach Überlebenden hinab. Kara sah gleich Dutzende von Gräbern, und auf einem hölzernen Wagen wurden etliche Transporter herangebracht.
Die Spuren der Zerstörung nahmen zu, je weiter sie in die Stadt eindrangen. Nicht alle Häuser hatte es so schlimm getroffen, daß sie gleich in den Boden hineingestampft worden waren, aber viele lagen in Trümmern. Dächer waren durchschlagen und Wände zu gewaltigen Schutthalden aufgetürmt.
Überall wirbelte Staub. Glasscherben, Schutt und zertrümmerte Möbel bedeckten die Straße.
Karas Unbehagen wuchs, je näher sie dem Pfeilerhaus kam.
Aber einen Pfeiler gab es hier nicht mehr.
Im ersten Augenblick glaubte sie, es läge am Staub, daß sie nirgends den Pfeiler ausmachen konnte, aber schließlich riß ein kräftiger Windstoß die Staubwolken über ihr auf, und sie konnte sicher sein: Der Pfeiler war nicht mehr da, nur noch ein größeres Trümmerstück ragte aus dem Boden.
Der Stamm war verschwunden.
Kara biß sich auf die Lippen. Offensichtlich war der ganze Trieb zusammengebrochen. Sie war fast sicher, daß Rusman oder dieser Narr Gendik allerhöchstens zwei Tage brauchen würden, um zwischen dieser Tatsache und der, daß sie in seiner unmittelbaren Nähe gearbeitet hatten, eine Beziehung herzustellen. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn es am Ende so aussah, als wäre es ihre Schuld! Gleichzeitig begann sich eine Sorge um Donay in ihr breitzumachen. Bedachte sie die Gewohnheit des jungen Bio-Konstrukteurs, praktisch Tag und Nacht zu arbeiten, dann standen die Chancen nicht schlecht, daß er hier gewesen war, als das Unglück passierte. Kara war plötzlich froh, bald aus dieser verrückten Stadt herauszukommen.
Fassungslos blickte sie das riesige, gähnende Loch an, wo das Pfeilerhaus gestanden hatte. Der Pfeiler war nicht zusammengestürzt. Er war einfach nicht mehr da! »O mein Gott!« flüsterte Kara. »Was... was ist hier passiert?«
Hrhon hielt neben ihr an und deutete zur anderen Seite des Platzes. Hunderte von Gestalten bewegten sich hektisch am Rand des Loches. Zu ihrer Erleichterung erkannte Kara Elder unter den gelb bemäntelten Gestalten. Sie wußte nicht, warum, aber sie war plötzlich froh, ihn zu sehen.
Dann erblickte sie Donay. Der Junge war völlig verdreckt, aber offensichtlich unverletzt. Durch einen Berg aus Trümmern und Staub stolperte er auf sie und Hrhon zu.
»Donay!« Kara sprang aus dem Sattel und eilte ihm entgegen. »Was ist passiert? Um Gottes willen, was ist hier geschehen?«
Donays Lippen bewegten sich, aber im ersten Moment brachte er nur ein unverständliches Schluchzen heraus. Tränen liefen aus seinen Augen und zeichneten dunkle Spuren in den Staub auf seinem Gesicht.
Kara ergriff ihn bei den Schultern und schüttelte ihn grob.
»Donay! Was ist passiert?« Ihr scharfer Ton brachte ihn ein wenig zur Besinnung.
»Tot«, stammelte Donay. »Sie... sie sind alle tot!«
Kara widerstand der Versuchung, ihn noch heftiger zu schütteln. Mit erzwungener Ruhe fragte sie noch einmaclass="underline" »Was ist passiert, Donay? Bitte, beruhige dich und erzähl es mir.«
»Er ist... zusammengebrochen«, stammelte Donay. »Einfach so. Gerade war er noch da, und einen Augenblick später... nicht mehr. Er war... er war einfach weg. Es hat ihn einfach in die Tiefe gerissen. Wie... wie eine Fliege, der man ein Bein abreißt. Einfach so.«
Er begann wieder zu stammeln, und Kara sah ein, wie sinnlos es war, weiter mit ihm reden zu wollen. Unschlüssig blickte sie zu dem gewaltigen Loch hinüber. Wie einer Fliege ein Bein...
Sie erschauerte. Der Pfeilerrest sah tatsächlich wie abgerissen aus, und dieser Schacht in der Erde...