Eine Bewegung ließ sie aufblicken. Elder eilte auf sie zu. Sein Gesicht war ebenso schmutzig wie Donays, aber offensichtlich hatte der Schrecken ihm nicht die Sinne getrübt. »Kara!« rief Elder schweratmend. »Gott sei Dank, daß du kommst. Angella...«
»Ich weißt nicht, wo sie ist«, unterbrach ihn Kara ungeduldig. »Sie ist vor mir losgeritten. Was ist hier passiert? Donay behauptet, der Stamm wäre einfach nach unten gezerrt worden!«
»Das stimmt«, antwortete Elder. »Ich war in der Nähe, als es passiert ist. Es gab ein Krachen, als stürzte die ganze Stadt zusammen, und dann... verschwand der Pfeiler einfach.«
Kara ging an ihm vorbei, näherte sich vorsichtig dem Rand des Loches und kniete nieder. Mit klopfendem Herzen beugte sie sich vor. Die Schwärze unter ihr war mit bloßem Auge nicht zu durchdringen. Mit dem Stamm waren auch die Leuchtstäbe und lichtspendenden Bakterienkulturen verschwunden.
Schaudernd griff sie nach einem Stein und ließ ihn in die Tiefe fallen. Er verschwand. Sie wartete einige Momente, aber sie hörte keinen Aufprall. »Was für ein schrecklicher Abgrund«, flüsterte sie. »Als ob man geradewegs in die Hölle blickte.« Sie stand auf und wich vom Rand des gewaltigen Loches zurück.
»Ich muß Angella finden. Vielleicht weiß sie, was hier passiert ist.«
Elder hielt sie an der Schulter fest, und plötzlich erschrak sie, erschrak bis auf den Grund ihrer Seele, denn sie wußte, daß etwas Furchtbares geschehen war. Dann sagte Elder. »Das habe ich dir die ganze Zeit über erklären wollen, Kara. Angella ist heute nacht noch einmal hierhergekommen, um ein letztes Mal hinunterzugehen und nach dem Fortgang der Arbeiten zu sehen.«
Kara starrte ihn an. Sie hatte das beklemmende Gefühl, als setze ihr Herz aus. »Was? « flüsterte sie.
Elder deutete auf den Abgrund zwei Schritte hinter ihr. »Es ist die Wahrheit. Sie ist dort unten, Kara.«
14
Der Strahl des starken Handscheinwerfers, von dem Elder behauptet hatte, er reiche eine halbe Meile weit, verlor sich unter ihr in der Tiefe, ohne irgend etwas anderes als wirbelnden Staub zu zeigen. Dann und wann glitt das bleiche, kalte Licht über Stufen, die im Nichts endeten, tastete über Türen, die in das gigantische Labyrinth des unterirdischen Schelfheim hineinführten, oder verlor sich in völliger Dunkelheit, wenn es durch einen der gewaltigen Hohlräume glitt, die es unter der Stadt gab. Manche von ihnen mußten groß genug sein, um allein eine kleine Stadt aufzunehmen. Niemand hatte bisher von der Existenz dieser ungeheuerlichen Höhlen gewußt, denn sie lagen tiefer in den steinernen Eingeweiden Schelfheims, tiefer als je ein Mensch vorgedrungen war.
Aber Kara war im Moment einzig daran interessiert, an das Ende des Lochs zu geraten. Wenn die Angaben stimmten, die Elder ihr regelmäßig über Funk durchgab, dann befanden sie sich mittlerweile zwei Meilen unter dem Straßenpflaster. Zwei Meilen... aber unter ihr gähnte nur Leere! Vielleicht führte dieses Loch tatsächlich geradewegs in die Hölle. Was sie allerdings nicht daran hindern würde, es bis zu seinem Ende zu erkunden, und wenn sie bis zur anderen Seite der Welt an diesem Seil hinabgleiten mußte! Sie würde Angella finden, ganz egal, wo und wann.
Zuerst an den seidenen Fäden dreier Transporter, dann über den Gang, den sie bereits kannte, waren sie selbst, Hrhon und Elder zu jenem unheimlichen Saal eine halbe Meile unter der Stadt geeilt. Beinahe allerdings wären sie abgestürzt, denn fast die gesamte gewaltige Halle war in den ungeheuerlichen Schlund geglitten. Und von Angella, Weller und den vier Männern, die in ihrer Begleitung gewesen waren, fehlte jede Spur.
Trotzdem war Kara überzeugt, daß Angella noch lebte.
Sie hatte sogar einen Beweis dafür; oder zumindest doch etwas, von dem sie behaupten konnte, daß es ein Beweis war: Der winzige Rufer an ihrem Hals, der auf die gleiche gedankliche Frequenz eingestellt war wie der Angellas und Wellers, regte sich von Zeit zu Zeit. Wenn schon nicht Angella, so war zumindest ihr Rufer noch am Leben.
Natürlich hatte Elder versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Worauf Kara sich aber nicht eingelassen hatte; sie hatte sich lediglich bereit erklärt, seine Hilfe anzunehmen. Ob das fingerdicke Drahtseil, an dem sie hing, tatsächlich sicherer war als der Spinnenfaden eines Transporters, wußte sie nicht.
Aber der Scheinwerfer erwies sich als recht nützlich. Kara war im Moment in einer Verfassung, in der sie jede Hilfe gebrauchen konnte; selbst die verpönte Technik.
Sie hatte eine unvorsichtige Bewegung gemacht und begann sich prompt am Ende des Kabels um ihre Achse zu drehen. Sehr behutsam versuchte sie, die Drehung abzufangen, und nach einer Weile gelang es ihr. Erleichtert atmete sie auf. Es war nicht nur das unangenehme Gefühl, sich wie ein lebender Kreisel hilflos herumzudrehen. Elder hatte sie gewarnt: am Ende eines zwei oder drei Meilen langen Kabels konnte jede unvorsichtige Bewegung sie mit Wucht gegen die Schachtwand schleudern.
In ihrem Ohr knackte es, und Kara fuhr erschrocken zusammen, noch ehe Elders Stimme aus dem Funkgerät drang. Sie würde sich nie daran gewöhnen, diese Dinger zu tragen.
»Alles in Ordnung, Kara?«
Sie hob vorsichtig den Kopf und blickte in die undurchdringliche Schwärze über sich. Das Tageslicht war schon vor Stunden zu einem münzgroßen Fleck über ihnen zusammengeschrumpft und danach erloschen. Obwohl Elder kaum fünf Meter über ihr schwebte, konnte sie ihn nur als Schemen erkennen. Er konnte sie offenbar deutlicher ausmachen.
»Sicher«, antwortete sie. Es ärgerte sie, daß Elder Zeuge ihres kleinen Patzers geworden war.
»Gut«, sagte Elder. »Aber sei vorsichtig, ja?«
Kara runzelte die Stirn und ersparte sich eine Antwort. Statt dessen konzentrierte sie sich lieber auf das, was unter ihr lag.
Wie tief war dieses verdammte Loch? Sie wünschte sich, eine Sucher-Fledermaus dabei zu haben, die sie vorausschicken konnte. Aber wahrscheinlich gab es so etwas in ganz Schelfheim nicht.
Vorsichtig hob sie die Hand und berührte eine Taste des winzigen Kästchens, das vor ihrem Kinn befestigt war. In ihrem Ohr erscholl ein Knacken, als schnippe jemand mit dem Zeigefinger gegen ihr Trommelfell.
»Hrhon?«
»Jha?« fragte die Stimme des Waga in ihrem Ohr. Sie klang gepreßt - als unterdrücke Hrhon mit letzter Kraft seine Angst.
»Alles in Ordnung?«
»Nhein«, antwortete Hrhon. »Nhihsss ihssst ihn Ohrdhnunhngh. Ihsss whill ehndhlhisss whidher fhessthen Bodhen uhnther dhen Fhüssshen!«
»Dann beiß doch dein Seil durch und flieg schon mal voraus«, mischte sich Elders Stimme in das Gespräch. Ernst fügte er hinzu: »Haltet Funkdisziplin!«
»Gern«, antwortete Kara. »Wenn du mir erzählst, was das ist.«
Elder seufzte. »Jemand könnte mithören.«
Das zumindest war bei einem Rufer nicht möglich, dachte Kara. Sie mußte an den Fremden denken, der sie um ein Haar getötet hätte. Wenn das kleine Kästchen an seinem Gürtel, das sie zerschlagen hatte, wirklich ein Dämpfer gewesen war, dann verfügten diese Männer vielleicht noch über ganz andere Schätze aus der Trickkiste der Alten Welt. Sie mußten aufpassen.
Gute zehn Minuten glitten sie weiter durch die Dunkelheit, dann sagte Elder plötzlich: »Da unten ist etwas.«
Kara preßte angestrengt die Augen zusammen, aber sie sah nichts. Der Scheinwerferstrahl verlor sich noch immer in sechs- oder siebenhundert Metern unter ihr in einer Schwärze, die fast stofflich zu sein schien. »Da ist nichts«, sagte sie.
»Mein Trigger zeigt etwas an«, beharrte Elder. Mochten die Götter wissen, was nun wieder ein Trigger war. »Da bewegt sich etwas. Aber das...« Er erschrak hörbar. »Das ist unmöglich!« keuchte er.
»Wieso?«
»Anderthalb Meilen!« stöhnte Elder.
»Und?« fragte Kara. »Es ist ein tiefes Loch.«