»Das wäre eine Meile unter dem Schlund!« sagte Elder. »Wir sind fast auf dem Meeresgrund, aber dieses Loch reicht noch viel tiefer.«
»Oh«, brachte Kara nur hervor.
»Da unten ist etwas«, fuhr Elder nach einer Weile fort. »Ich kann es nicht genau erkennen. Zehn, vielleicht auch fünfzehn...«
»Fünfzehn was?«
»Blips.«
»Aha«, sagte Kara.
»Du schaltest besser den Scheinwerfer aus. Sie könnten das Licht sehen, lange bevor wir sie sehen«, sagte Elder.
Kara gehorchte.
Der Scheinwerferstrahl, so dünn und blaß er gewesen war, hatte immerhin noch einen letzten Schutz vor dieser fürchterlichen Schwärze geboten. Jetzt glitt sie völlig orientierungslos durch die Dunkelheit. Sie kam sich hilflos und furchtbar verloren vor. Für Augenblicke mußte Kara mit aller Macht gegen die Panik ankämpfen, die nun sie zu überwältigen drohte. Es war nicht die Abwesenheit von Licht, es war ein unsichtbares Ding, das sie packen und zerreißen würde, unweigerlich, und... Sie zwang sich mit aller Kraft, den Gedanken zu vertreiben und die Panik zurückzudrängen.
Für beinahe eine halbe Stunde glitten sie schweigend immer weiter in die Tiefe. Sie wagten es nicht einmal, die Funkgeräte zu benutzten.
Sie mußten sich noch zwei- oder dreihundert Meter über dem Boden befinden, wenn Karas Einschätzung richtig war, als sie plötzlich einen flüchtigen Eindruck von Bewegung unter sich erhaschte - und einen Moment darauf einen grünen, unglaublich dünnen Faden aus Licht sah, der wie ein leuchtender Finger zu ihnen hinauftastete. Geblendet schloß sie die Augen und hörte einen gellenden Schrei über sich. Erschrocken blickte sie hoch.
Der Lichtfaden hatte eine der Gestalten über ihr getroffen.
Sie konnte nicht erkennen, wer es war, denn der Mann brannte lichterloh. Kreischend warf er sich hin und her, dann riß sein Seil, und er stürzte wie eine lebende Fackel an ihnen vorbei in die Tiefe. Seine Schreie hörten plötzlich wie abgeschnitten auf, aber der lodernde Flammenschein war noch sekundenlang zu sehen, ehe er erlosch.
Das grüne Licht flammte zum zweiten Mal auf und traf mit tödlicher Präzision sein Ziel, und in die gellenden Schreie des Mannes über ihr mischte sich Elders überschnappende Stimme.
»Um Gottes willen! In Deckung!«
In Deckung? dachte Kara, die selbst einer Panik nahe war.
Wie sollten sie in Deckung gehen? War Elder völlig übergeschnappt?
Die Schreie des unglücklichen Mannes über ihr verstummten, aber sein Seil riß nicht ab. Im flackernden Feuerschein des lichterloh brennenden Körpers sah Kara, wie Elder mit raschen, ruckhaften Bewegungen am Seil zu zerren begann, so daß er sich wild im Kreise drehte. Sie begriff rechtzeitig genug, warum er das tat, und machte es ihm nach, denn der nächste Schuß war auf sie gezielt. Der grüne Lichtblitz verfehlte sie so knapp, daß sie das elektrische Knistern der Luft hören konnte.
Immer heftiger warf sie sich hin und her. Ein zweiter Lichtblitz tastete nach ihr und verfehlte sie erneut, dann sah sie die Wand des Schachtes auf sich zurasen und konnte noch die Knie an den Körper ziehen, um dem Aufprall wenigstens die ärgste Wucht zu nehmen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihr würden die Beine zerschmettert werden. Sie schrie vor Schmerz, hielt sich aber instinktiv irgendwo fest und brachte es sogar fertig, nicht wieder von der Wand zurückgeschleudert zu werden.
Etwas schnitt ihr tief in ihre Hände. Sie spürte ihr eigenes Blut warm und klebrig über ihre Finger rinnen, biß die Zähne zusammen und klammerte sich nur noch fester an ihren Halt, und in diesem Moment zischte der grüne Lichtfaden ein drittes Mal aus der Tiefe und kappte ihr Seil kaum einen Meter über ihrem Kopf.
Kara rutschte schlagartig ein Stück weit nach unten und keuchte ein zweites Mal vor Schmerz, als das rotglühende Ende des durchtrennten Drahtseils wie eine Peitsche auf ihren Rücken schlug. Aber sie ließ nicht los. Und wenn sie es tat, war sie verloren.
Wahrscheinlich wäre sie auch so abgestürzt, hätte nicht plötzlich eine Hand nach ihrem Arm gegriffen und sie mit einem einzigen, kräftigen Ruck nach oben gezerrt. Fels schrammte über ihre Hüftknochen, dann wurde sie in einen niedrigen, muffig riechenden Korridor hineingezerrt und sank keuchend zu Boden. Mit letzter Kraft drehte sie den Kopf und blickte in den Schacht hinaus. Der Tote am Ende des Seiles brannte noch immer, und der Feuerschein tauchte die Szene in ein unheimliches, flackerndes Licht.
Nachdem Elder und sie sich aus der Schußlinie gebracht hatten, konzentrierte sich das grüne Feuer auf Hrhon. Der Waga zappelte brüllend am Ende seiner drei Meilen langen Sicherheitsleine und versuchte gleichfalls, Elders Manöver nachzuahmen, wozu er sich allerdings nicht geschickt genug anstellte.
Immerhin erschwerte es dem unsichtbaren Schützen in der Tiefe sein Geschäft. Zwei-, dreimal stach der grüne Blitz vergebens nach ihm. Dann änderte der Schütze seine Taktik und kappte schlicht und einfach Hrhons Seil. Mit einem gellenden Schrei stürzte der Waga in die Tiefe.
Kara schloß entsetzt die Augen, Aber sie gestattete sich nicht, den Schmerz an sich herankommen zu lassen, sondern richtete sich sofort wieder auf und starrte Elders Umriß in der Dunkelheit vor sich an.
»Was ist das?« flüsterte sie. »Wer ist das, Elder?!«
Elder zuckte mit den Schultern, kroch auf Händen und Knien zurück zum Ende des gemauerten Tunnels, in dem sie Zuflucht gefunden hatte, und steckte behutsam den Kopf ins Freie. Allerdings nur, um ihn hastig wieder zurückzuziehen, denn beinahe augenblicklich zuckte wieder das grüne Feuer aus der Tiefe empor und schlug Funken in die Felswand.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Aber wer immer sie sind, sie können im Dunkeln sehen.« Kara wagte es nicht, gleichfalls einen Blick in die Tiefe zu riskieren. »Sie haben Hrhon umgebracht! Und Farin!«
»Und einen meiner Männer«, versetzte Elder ärgerlich. »Aber was soll ich jetzt tun? Mich aus purer Sympathie erschießen lassen?«
Kara deutete anklagend auf den Laser in seinem Gürtel. »Du hast eine Waffe! Warum wehren wir uns nicht?«
»Weil ich nicht im Dunkeln sehen kann!« erwiderte Elder gereizt. Dann seufzte er. Mit einer müden Bewegung zog er den Laser aus dem Gürtel und drehte ihn in den Händen.
»Ich weiß nicht einmal, ob das Ding so weit schießt«, gestand er. »Außerdem wäre es Selbstmord, auch nur eine Sekunde über den Felsrand zu blicken. Ich fürchte, wir sitzen hier fest.«
»Was soll das heißen?« fragte Kara alarmiert.
Elder lächelte humorlos und machte eine Geste auf die Wand hinter Kara. »Sieh dich doch mal um!«
Kara zog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. Sie hatte angenommen, daß sie sich in einem jener endlosen Tunnel befanden, die es unter der Stadt gab. Aber der Stollen, den sie erwischt hatten, endete nach ein paar Schritten vor riesigen Felsblöcken.
»Und was tun wir jetzt?« fragte Kara mutlos.
Elder zuckte nur mit den Schultern. »Warten«, sagte er. »Früher oder später werden sie merken, daß irgend etwas nicht stimmt, und nachsehen kommen.«
»Und wann wird das sein?«
Elder grinste. »Ich schätze, in sechs oder sieben Stunden.«
»Sechs oder sieben Stunden?!« Kara ächzte. »In diesem Loch?«
»Keine Sorge.« Elder hob beruhigend die Hand. »So lange werden wir nicht hier aushalten müssen.« Er machte eine Kopfbewegung zum Ausgang. »Ich denke, unsere Freunde werden sehr viel früher hier auftauchen und nachschauen, ob wir noch am Leben sind.«
»Deine sonderbare Art von Humor geht mir ein wenig auf die Nerven, Elder«, sage Kara.
Sie erntete ein weiteres, noch breiteres Grinsen und schluckte ihren Ärger wie eine bittere Flüssigkeit hinunter. Elder hatte vermutlich recht - die Männer, die auf sie geschossen hatten, mußten wissen, daß sie noch am Leben waren. Und sie würden etwas dagegen unternehmen.