»Was ist damit?« Sie deutete auf Elders Funkgerät. »Warum benutzt du dieses Wunderding nicht und rufst Hilfe?«
»Durch drei Meilen Erdreich und Fels hindurch?« Elder schüttelte den Kopf. »Keine Chance.«
»Da siehst du, wie weit du mit deiner famosen Technik kommst«, erwiderte Kara verärgert. Sie gab sich Mühe, das Wort möglichst abfällig auszusprechen. »Wenn man sie einmal wirklich braucht, funktioniert sie nicht!«
Elder hielt es nicht einmal für nötig, darauf zu antworten.
Eine ganze Weile saßen sie schweigend im Dunkeln nebeneinander. Kara versuchte, sich über ihre eigenen Gefühle klarzuwerden. Sie hatte keine Angst vor dem, was kommen würde.
Ganz im Gegenteil war ihr der Gedanke, vielleicht wenigstens im Kampf zu sterben, sehr viel weniger unangenehm als die Vorstellung, von einem grünen Lichtblitz aus der Dunkelheit getroffen und in eine lebende Fackel verwandelt zu werden.
Doch sie verspürte Zorn. Einen unbändigen, brodelnden Zorn, so heftig, daß sie ihn beinahe wie einen körperlichen Schmerz empfand.
»Verdammt, ich will nicht hier herumsitzen und warten, bis ich abgeschlachtet werde!« sagte Kara aufgebracht. »Wir müssen etwas -«
»Still!« Elder brachte sie mit einer hastigen Handbewegung zum Verstummen und richtete sich auf. Ein gebannter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Was ist?« fragte Kara. Auch sie lauschte, hörte aber nichts.
»Ich weiß nicht«, antwortete Elder. »Jemand... kommt.«
Kara lauschte wieder, ohne irgend etwas wahrzunehmen. Sie beschloß, sich einfach darauf zu verlassen, daß Elder über ein besseres Gehör verfügte als sie. Was hatte sie auch zu verlieren, außer ihrem Leben?
Nach einigen Augenblicken hörte sie dann aber ein sonderbares Kratzen und Schaben, als krieche etwas an der Wand unter ihnen empor. Vor Karas innerem Augen entstand das Bild einer riesigen stählernen Spinne, die langsam aber unaufhaltsam an der Wand heraufkrabbelte...
»Der Scheinwerfer«, flüsterte Elder. »Schalt ihn ein, sobald sie auftauchen. Vielleicht blendet sie das Licht.«
»Bestimmt nicht«, murmelte Kara. Trotzdem löste sie den klobigen Handscheinwerfer von den dünnen Lederriemen, mit denen er vor ihrer Brust befestigt war, und richtete ihn wie eine Waffe auf den Tunnelausgang. Ihr Finger strich nervös über den Schalter, aber sie widerstand der Versuchung, ihn jetzt schon zu drücken.
Das Kratzen und Schaben kam näher, dann erschien ein buckeliger Schatten vor dem Tunnel. Kara schaltete den Scheinwerfer ein.
Im allerersten Moment, als sich das gleißende Licht schmerzhaft reflektierte, erkannte sie kaum etwas. Vor ihnen ragte ein großes, kantiges Etwas hervor, dessen metallen schimmernde Oberfläche das Licht des Scheinwerfers so heftig zurückwarf, daß es Kara fast die Tränen in die Augen trieb.
Das Ding reichte ihnen wahrscheinlich nur bis zu den Knien, hatte aber einen Durchmesser von gut eineinhalb Meter und tatsächlich ein gutes Dutzend Beine, von denen die meisten in gebogenen Widerhaken endeten, mit denen es sich an der Wand festgeklammert hatte. Es ähnelte eher einer Krabbe als einer Spinne, es hatte lange, rasiermesserscharfe Scheren und glotzende Augen aus rotem Kristall, in denen sich das Licht des Scheinwerfers widerspiegelte, als glühten sie in einem unheimlichen, inneren Feuer. Zwischen den beiden faustgroßen Glotzaugen ragte ein kurzes Rohr heraus, das den Durchmesser von Karas kleinem Finger hatte.
»Paß auf!« schrie Elder mit überschnappender Stimme, und im gleichen Moment ertönte ein ratterndes Dröhnen; eine orangerote, unterbrochene Stichflamme zuckte aus dem Rohr der Metallkrabbe, und der Scheinwerfer vor ihrer Brust zersprang mit einem lauten Plink!
Kara krümmte sich vor Schmerz und fiel auf den Rücken, während rings um sie herum ein Kreischen und Dröhnen losbrach: eine Reihe fürchterlicher, betäubender harter Schläge traf ihr rechtes Bein, die rechte Seite ihres Körpers und den Arm, welche der Krabbe zugewandt waren. Gleichzeitig begann Elders Körper wild zu zucken, wie eine Marionette, deren Fäden sich verheddert hatten, und von einer unsichtbaren Hand wurde er gegen die Wand und zu Boden geschleudert.
Dann hörte das Dröhnen auf; so plötzlich wie es begonnen hatte. Kara lag auf dem Rücken, hilflos und gelähmt vor Schmerz, aber mit offenen Augen. Die Krabbe hockte vor ihr und starrte sie aus ihren faustgroßen Kristallfacetten an. Aus dem kurzen Rohr in ihrem Schädel kräuselte sich grauer Rauch.
Kara erkannte, was sie getroffen hatte. Rings um sie herum bedeckte eine Unzahl kleiner, deformierter Kugeln den Boden; Geschosse, die nicht tödlich wirkten. Aus irgendeinem Grund wollten die Unbekannten Elder und sie lebend in die Hand bekommen, wenn möglich allerdings bewußtlos.
Zumindest in Elders Fall hatte es geklappt. Er lag reglos neben ihr, aber wenigstens atmete er noch.
Und sie?
Die Schläge waren so hart gewesen, daß ihre Muskeln verkrampft und paralysiert waren. Sie hatte kaum Schmerzen und konnte sich nicht bewegen. Der Gedanke an Widerstand, der ihr immer noch durch den Kopf schwirrte, war völlig sinnlos geworden.
Die Krabbe kroch auf rasselnden Beinen näher. Ihre gläsernen Augen starrten Kara an. Eine ihrer riesigen Scheren bewegte sich, tastete erstaunlich behutsam über Karas Gesicht und verharrte einen Moment außerhalb ihres Gesichtsfeldes.
Dann spürte Kara einen heftigen, aber rasch abklingenden Schmerz. Und als sie die Schere wieder hob, hielt sie Überreste eines winzigen Insekts: Karas Rufer.
Die Krabbe kroch zurück, drehte sich auf der Stelle und untersuchte auch Elder sehr sorgfältig, und dann kroch sie fast behäbig zum Schacht zurück. Sechs ihrer zwölf Beine krallten sich weit gespreizt in den Fels, während sie sich so weit vorbeugte, daß das vordere Drittel ihres flachen Metallkörpers über den Abgrund hing. Dann erstarrte sie.
Kara wußte nur zu gut, was geschah. Auf ihre stumme Art und Weise trat die Krabbe mit denen in Verbindung, die sie geschickt hatten, und in wenigen Augenblicken würden sie selbst kommen. Und das Schicksal, das Kara erwartete, war schlimmer als der Tod, davon war das Mädchen überzeugt. Sie mußte etwas tun. Unbedingt!
Doch die Krabbe mußte eine teuflische Waffe eingesetzt haben. Karas Muskeln waren so hart und gefühllos wie Holz.
Panik drohte sie zu überwältigen. Der Verzweiflung nahe versuchte sie sich in Erinnerung zu rufen, was Angella ihr beigebracht hatte. Der Schock, der die rechte Hälfte ihres Körpers paralysiert hatte, schien sich auch auf ihr Denken auszuwirken.
Versuch nicht, dagegen anzukämpfen! Stell dich dem Schmerz, nimm ihn an wie einen Freund und verwandele ihn in etwas, das dir hilft - Zorn, Wut, Trauer, ja, auch Angst! Verwandele ihn! Richte ihn gegen sich selbst! Benutze ihn!
Sie versuchte es. In ihrem linken Arm war wieder ein wenig mehr Leben, aber noch immer nicht genug, um auch nur die Hand zu heben. Kara zählte: fünf, zehn, dreißig... wieviel Zeit hatte sie noch? Egal, sie kämpfte weiter, zwang das Leben zuerst in ihre linke Körperhälfte und dann Stück für Stück in die rechte zurück und jubilierte, als ein krampfhaftes Zucken durch ihre gelähmten Muskeln lief; nicht heftig genug, um die Aufmerksamkeit der Krabbe zu erwecken, aber allemal ausreichend, ihr die Tränen in die Augen zu treiben.
Durch dunkle Schleier hindurch betrachtete Kara die Krabbe.
Sie war ein Stück weiter gekrabbelt und hing fast zur Hälfte über dem Abgrund. Kara beschloß, ihre zurückgewonnenen Kräfte auszuprobieren, wappnete sich gegen den erwarteten Schmerz und trat mit aller Gewalt zu. Ihr Fuß traf die Krabbe, katapultierte sie einen halben Meter weit ins Nichts hinaus, wo sie den Bruchteil einer Sekunde schwerelos hängenzubleiben schien, ehe sie mit einer fast anmutig erscheinenden Bewegung nach vorn kippte und in der Tiefe verschwand.