Die Augen in dem schmutzigen Gesicht des Mannes blitzten auf, aber bevor er antworten und sich damit vielleicht um Kopf und Kragen reden konnte, richtete sich Kara wie zufällig ein wenig im Sattel auf, so daß ihr Mantel ein Stück zur Seite glitt.
Der Zorn in den Augen des Mannes verwandelte sich in Schrecken, als er den Schwertgriff in ihrem Gürtel bemerkte.
Hastig senkte er den Blick.
»Also gut«, knurrte er. »Wie viele?«
»Dreiundzwanzig«, antwortete Angella.
Der Schmuddelige begann mit flinken Bewegungen der linken Hand eine Anzahl der gelben Zettel abzuzählen, während sein Blick über die berittenen Gestalten vor sich wanderte.
Plötzlich stockte er.
»Heda!« sagte er. »Den kann ich nicht mitzählen!« Er deutete auf Hrhon.
»So?« antwortete Angella. »Was ist daran so schwierig?«
Der Mann bemerkte Angellas spöttischen Ton nicht einmal.
»Das ist ein Waga!«
Angella drehte sich im Sattel herum und musterte Hrhon einen Moment lang. Dann sagte sie mit übertrieben gespielter Überraschung: »Tatsächlich! Man erlebt doch immer wieder Überraschungen, nicht wahr? Vielen Dank, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Aber trotzdem wirst du ihn mitzählen.«
Allmählich schien dem Kerl zu dämmern, daß Angella ihn verspottete, denn in seinen Augen blitzte es abermals zornig auf.
»Er ist zu schwer«, sagte er wütend. »Der Kerl wiegt mindestens soviel wie drei Männer. Ich muß ihn dreifach berechnen.«
Angella seufzte. Aber der Wutanfall, auf den Kara wartete, blieb noch immer aus. »Seit wann berechnet ihr die Gebühren nach Gewicht?« fragte sie nur.
»Seit einer ganzen Weile«, antwortete der Mann. »Jedenfalls bei solchen wie dem da!«
»Dem da?« Angella seufzte tief. »Es hat sich wirklich eine Menge geändert, seit ich das letzte Mal in Schelfheim war.« Sie machte eine befehlende Handbewegung, als der Schmuddelige antworten wollte. »Schreib auf, so viele du willst. In gewisser Hinsicht hast du ja recht - er wiegt wirklich soviel wie drei normale Männer.«
»Kraft hat er sogar für vier«, sagte Kara. Der Schmuddelige erbleichte.
»Mindestens«, bestätigte Angella.
Der Schmuddelige wurde noch eine Spur blasser. »Vielleicht«, sagte er nervös, »kann ich es ja verrechnen. Ich sehe, ihr habt ein Kind, dabei.« Er deutete mit einer fahrigen Bewegung auf Kara und erntete einen giftigen Blick dafür. »Ich meine, das könnte das zusätzliche Gewicht ausgleichen, nicht wahr?«
»Gib schon die Zettel her«, erwiderte Angella ungeduldig. »Unsere Zeit ist knapp.«
Der Torwächter begann seine Zettel abzuzählen, aber er war so nervös, daß er sich mehrmals verzählte und dreimal von vorn beginnen mußte. Angella riß ihm die gelben Zettel aus der Hand und stopfte sie achtlos unter ihren Umhang. Mit einer sehr hastigen Bewegung fuhr der Mann herum und verschwand hinter seiner Barriere.
Kara blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Was war das für ein Kerl?« fragte sie verblüfft.
»Ein Idiot«, antwortete Angella gelassen.
»Ich meine, was... was wollte er?«
»Die Benutzung der Brücke ist nicht kostenlos. Man muß Gebühren entrichten, um in die Stadt zu kommen.« Sie betonte den nächsten Satz, als hielte sie das Ganze hier für einen schlechten Scherz. »Schelfheim ist eine arme Stadt, mußt du wissen.«
»Gebühren? Warum benutzen wir die Brücke dann?« Kara deutete auf die Klippe hinter sich. »Ich habe mindestens ein Dutzend Stellen gesehen, an denen man bequem hinunterklettern kann.«
»Ja«, bestätigte Angella trocken. »Nur müßten wir dabei unser Gepäck auf den Schultern tragen - und die Pferde auf den Rücken. Hrhon könnte es schaffen, denke ich. Und du auch.« Sie maß Kara mit einem amüsierten Blick. »Außerdem... wirst du bald herausfinden, daß Bequemlichkeit manchmal mehr wert ist als ein wenig Geld.«
Das Klirren einer schweren Kette erscholl, bevor Kara noch etwas antworten konnte. Plötzlich teilte sich die Palisade vor ihnen, und die linke Seite rollte ein Stück zurück, allerdings nur so weit, daß sie hintereinander durch die Lücke reiten konnten.
Karas Ärger über diese Bosheit des Brückenwärters flammte kurz auf und erlosch dann schlagartig, als sie hinter Angella durch die Lücke ritt und sah, was vor ihnen lag.
Der Anblick war schlicht phantastisch.
Kara hatte die Brücke bisher nur von weitem gesehen, und da war sie ihr wie eine zwar große, aber durchaus gewöhnliche Brücke vorgekommen. Jetzt aber erkannte sie, daß es sich um alles andere, doch nicht um eine gewöhnliche Brücke handelte.
Die Brücke war gewaltig; es mußte auch mehr als einen Zugang geben, denn der Weg, der sich vor ihnen ausbreitete, war mehr als hundert Schritt breit. Rechts und links des aus schweren Bohlen zusammengefügten Weges erhoben sich zwei-, manchmal dreistöckige Gebäude aus Holz und Metall. Die meisten Fenster waren leer und dunkel, aber Kara entdeckte, daß einige dieser Häuser bewohnt waren! Aus Kaminen kräuselte sich graubrauner Rauch, und hier und da gewahrte sie flackernden Feuerschein. Gestalten bewegten sich zwischen den Häusern und auf der Brücke, und ein großer, vierrädriger Karren rollte vorbei, gezogen von zwei gedrungenen, sechsbeinigen Hornköpfen. Kara straffte sich. Sie wußte, daß diese Geschöpfe so harmlos - und intelligent - wie ein Stück Holz waren, aber sie hatte die instinktive Furcht vor den chitingepanzerten Kolossen niemals ganz überwunden.
Kara riß sich vom Anblick des Karrens los und trieb ihr Pferd an, um wieder zu Angella aufzuschließen. Ihr Blick versuchte das jenseitige Ende der Brücke zu finden, aber es gelang ihr nicht.
»Bei allen geflügelten Drachen«, murmelte sie, »wie lang ist dieses Ding?«
»Oh, das weiß niemand so ganz genau«, antwortete Angella. »Sie bauen ständig weiter an der Brücke. Ich denke, sie wird schon einen großen Teil der Stadt überspannen, und sie wächst fast so schnell wie Schelfheim selbst.« Sie machte eine Handbewegung über die Stadt hinweg. »Früher einmal war es wirklich nur eine Brücke, die vom Kontinent hinunter auf den Schelf führte, damit...« Sie lächelte flüchtig. »...die Leute hier eben nicht ihre Pferde auf dem Rücken das Kliff hinuntertragen mußten. Aber mittlerweile ist sie zu einer Straße über der ganzen Stadt geworden. Es gibt Zugänge in fast jedes Viertel; was ganz praktisch ist in einer Stadt, in der die Straßen schneller im Boden versinken, als man sie bauen kann. Die Bewohner nennen sie den Hochweg. Allerdings«, fügte sie auf eine Art hinzu, aus der Kara neben Erstaunen auch noch eine leise Spur von Sorge herauszuhören glaubte, »ich bin selbst ein wenig überrascht, wie schnell die Brücke in den wenigen Jahren gewachsen ist, die ich nicht hier war.«
Karas Blick glitt mit nicht nachlassendem Staunen über die riesige Brückenkonstruktion. Wie fast alle größeren Ansiedlungen - einschließlich Angellas Drachenfeste - war die Stadt auf dem der eigentlichen Welt vorgelagerten Kontinentalschelf errichtet worden; vor zweihunderttausend Jahren, als die Überlebenden der letzten großen Katastrophe aus den Trümmern ihrer Zivilisation herauskrochen und nach einem Ort Ausschau hielten, an dem sie leben konnten. Die schmalen Gürtel zwischen den verbrannten Kontinenten und den gewaltigen Becken der verdampften Ozeane waren die einzigen Teile der Welt gewesen, auf denen Leben überhaupt noch möglich war. Mittlerweile bewohnten Menschen wieder große Teile der Kontinente; es hatte auch Versuche gegeben, Siedlungen in den Bereichen des Schlundes zu errichten, die nicht von Gäa beansprucht wurden. Schelfheim aber war geblieben wie die meisten Städte, weil Schelfheim eben Schelfheim war und nicht Bergheim oder Wüstentor oder Dschungelburg und weil es mit seinen zweihunderttausend Jahren die älteste und auch die größte Stadt war. Nur waren die Gründer der meisten anderen Städte nicht so dumm gewesen, ihre Häuser auf einem drei Meilen hohen Sandhaufen zu errichten, der langsam unter ihnen zerrann.