Die Wasseroberfläche lag ungefähr vierhundert Meter unter der Höhlendecke, und als sie sich ihr näherten, sah Kara, daß sie sich nahe am Ufer des unterirdischen Ozeans befanden. Das Meer bildete hier eine halbkreisförmige, vielleicht eine Meile durchmessende Bucht, die zur offenen Seite hin von Felsen begrenzt wurde. Unmittelbar unter ihnen war fester Boden, und als sie noch tiefer kamen, erkannte Kara eine Anzahl großer, unregelmäßig geformter Körper, die im Wasser trieben.
Schließlich begriff sie, daß es sich um titanische Zweige des verschwundenen Triebes handelte.
Aufmerksam sah sie sich weiter um. Jetzt, da sie den ersten Sturm von Gefühlen überwunden hatte, entdeckte sie rasch mehr und mehr der gigantischen Wurzelstränge, die die lebende Brücke über Schelfheim fünf Meilen weit in die Erde bis in dieses riesige Wasserreservoir hinabgesandt hatte. Aber etwas war mehr als seltsam: Die meisten Wurzeln reichten nicht bis auf die Wasseroberfläche herab, sondern endeten hundert oder fünfzig Meter darüber in einem Gewirr schlaff herabhängender, weißer Stränge; wie nasses totes Haar, das die Farbe von verwesendem Fleisch angenommen hatte.
Endlich berührte die Kristallscheibe den Boden - besser gesagt, hielt sie zitternd einen knappen Dreiviertelmeter darüber an, so daß sie das letzte Stück mit einem Sprung überwinden mußten.
Ihre Stiefel verursachten ein unheimliches, lang nachhallendes Geräusch in der riesigen Höhle, und erneut konnte sich Kara eines Schauderns nicht erwehren. Es war eine unheimliche, unwirkliche Welt, in der sie sich befanden: Die Felsen waren schwarz und so glatt wie Glas, aber hier und da von dicken, verkrusteten Panzern aus abgestorbenen Muscheln und anderen Meerestieren bedeckt. Die Höhlendecke befand sich jetzt so weit über ihnen, daß sie wie ein versteinerter Himmel wirkte. Vom Wasser stieg ein eigenartiger, salziger Geruch auf, und das Holz, das darauf trieb, entpuppte sich als riesige Trümmerstücke, die manchmal größer als ein Haus waren. Zwischen den Trümmern trieb der zerschmetterte Körper eines der Männer auf den Wellen, gegen die sie oben im Tunnel gekämpft hatten. Den Ursprung des grauen Lichtes konnte Kara nicht entdecken.
Elder deutete nach rechts, vom Ufer fort, und da entdeckte Kara das Lager der beiden Männer. Sehr vorsichtig näherten sie sich. Zwischen zwei hohen Felsbuckeln erhob sich ein sonderbar geformtes Zelt, dessen Wände zu Karas Verblüffung völlig durchsichtig waren. Es hatte nicht die gewöhnliche, an ein Dach erinnernde Form, sondern glich einer abgeflachten Halbkugel; halbrund war auch der Eingang. Gebückt folgte sie Elder.
Das erste, was ihr auffiel, war die Wärme. Die unangenehme Feuchtigkeit der Höhle blieb hinter ihnen zurück, und ein behaglicher Hauch wehte ihnen in die Gesichter. Kara gewahrte allerlei völlig unverständliche Gerätschaften und Apparaturen, die sie jedoch nur mit einem fast angewiderten Blick streifte, während Elder sich sofort mit Begeisterung daraufstürzte.
Wenigstens auf dem Boden entdeckte sie Dinge, die sie kannte: eine unordentlich zusammengeknüllte Decke, eine lederne Tasche mit einem hübsch geformten Messingverschluß, ein paar Schuhe von geradezu absurder Größe, zwei Schlafsäcke...
Zwei. Das bedeutete, daß die beiden, die sie getötet hatte, tatsächlich allein gewesen waren und sie zumindest nicht unmittelbar mit einer bösen Überraschung rechnen mußten.
Während Elder sich mit der Begeisterung eines Kindes, das eine ganze Kiste voll neuer Spielzeuge entdeckt hatte, auf die technische Einrichtung stürzte, unterzog Kara die Habe der beiden Männer einer eingehenderen Untersuchung. Sie fand ein Buch mit unverständlichen Schriftzeichen und ebenso unverständlichen, aber interessanten Bildern, das sie flüchtig durchblätterte und dann zurücklegte. Die Schlafsäcke bestanden aus einem höchst bemerkenswerten Material, das sich glatt wie Seide anfühlte, aber beinahe unzerreißbar war, und die Tasche enthielt jenen nützlichen Kleinkram, den man mitnimmt, wenn man sich auf eine längere, aber nicht ganz lange Reise begibt: ein wenig Essen, ein Bild, das eine Frau und zwei Kinder vor einem sehr sonderbaren Hintergrund zeigte (die Häuser waren zu groß und der Himmel hatte die falsche Farbe), ein halbleeres Päckchen mit weißen Stäbchen, das mit aromatisch riechenden Krümeln gefüllt war, weitere Bücher, ein verknittertes Hemd ohne Ärmel, ein Paar Socken, die genauso unmöglich groß waren wie die Schuhe und zum Himmel stanken...
Fein säuberlich legte Kara alles wieder in die Tasche zurück, nahm aber das Bild noch einmal zur Hand und betrachtete es erneut. Die Häuser im Hintergrund kamen Kara sehr seltsam vor (hätte sie nicht gewußt, daß es unmöglich war, dann hätte sie schwören können, daß sie aus Stahl waren), und der Himmel war blau, nicht türkis. Die drei Personen auf dem Bild allerdings wirkten recht normal - eine junge, weder besonders hübsche noch besonders unattraktive Frau und zwei ausgesprochen häßliche Kinder. Wahrscheinlich die Familie des Mannes, dem die Tasche gehörte.
Ein heftiges Gefühl von Verwirrung überfiel Kara. Sie dachte an die ausdruckslosen, glasbedeckten Gesichter der beiden, und zum allerersten Mal kam ihr zu Bewußtsein, daß sie neben Feinden und Angreifern auch Menschen waren; Männer, die lachten, liebten, Familien und Freunde hatten... war es das, was Angella gemeint hatte, als sie sagte, Kara hätte im Grunde noch nie wirklich gekämpft? Sie hatte nicht einfach nur zwei Gegner ausgeschaltet wie bei den Übungskämpfen im Hort, sondern zwei Leben ausgelöscht.
Ehe diese Vorstellung ihr Denken völlig vergiften konnte, schob sie das Bild hastig wieder in die Tasche zurück und wandte sich Elder zu. Er hockte mit leuchtenden Augen über einem flachen Kästchen von der Größe einer Schreibtafel, das er in der Mitte auseinandergeklappt hatte. Die obere Hälfte bestand aus einer mattblauen Glasscheibe, während sich auf der unteren eine Unzahl kleiner rechteckiger Tasten befand, die mit den gleichen unverständlichen Buchstaben beschriftet waren, die sie auch in dem Buch gesehen hatte. Zusammengeklappt mußte das Kästchen bequem in die Tasche passen.
»Was ist das?« fragte Kara.
Elder zuckte mit den Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand er. »Aber es ist faszinierend.«
Kara seufzte. »Du und deine Technik. Meinst du nicht, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun?«
Elder sah sie einen Moment ernst an, dann klappte er das Kästchen zu und richtete sich auf. Ein flüchtiger Ausdruck von Schmerz huschte über sein Gesicht. Er konnte sich immer noch nicht richtig bewegen. »Vielleicht übertreibe ich es manchmal«, sagte er. »Aber nicht so schlimm wie ihr. Ihr verachtet alles, was mit Technik zu tun hat. Aber man muß eine Sache nicht lieben, um etwas davon zu verstehen. Und wie willst du deine Feinde wirksam bekämpfen, wenn du nichts über sie weißt?«
Kara sah ein, daß ein Streit sie jetzt überhaupt nicht weiterbrachte, und vielleicht hatte Elder sogar recht. »Hast du irgend etwas entdeckt, was uns weiterhilft?«
»Nein.« Elder zuckte abermals die Achseln. »Wenn ich eine Woche Zeit hätte, oder wenigstens ein paar Stunden... ich werde nicht schlau aus dem Gerät.« Er deutete auf ein klobiges Etwas, das auf einem dreibeinigen Tisch stand und zahlreiche farbige Lichter und Skalen aufwies. »Es scheint eine Art Funkgerät zu sein.«
»Das heißt, die beiden waren nicht allein?« Kara erschrak.
Dann begriff sie plötzlich, wie naiv diese Frage gewesen war.
»Natürlich nicht«, antwortete Elder. »Ich möchte nur wissen, was sie hier unten suchen.«
»Vielleicht Wasser?« Der Gedanke kam ihr im selben Moment, in dem sie ihn aussprach.
»Ja, sicher«, sagte Elder spöttisch. »Sie werden irgendwo einen ganz großen Eimer versteckt haben, mit dem sie es abschöpfen, wie?« Er lachte, schüttelte den Kopf und verließ das Zelt. Kara folgte ihm.