Nach der Wärme im Inneren kam ihr die Luft draußen doppelt so kalt und feucht vor. Ihr Blick glitt über das Ufer. Das Wasser war hier sehr seicht. Treibgut war angespült worden.
Dazwischen trieb ein schwarzblaues Bündel.
Elder deutete auf die Leiche. »Sieh nach, ob seine Waffe noch funktioniert. Wenn wir auf mehr von ihnen stoßen, bist du nur mit deinem Schwert nicht sonderlich gut ausgerüstet.«
Der Gedanke, eine Leiche abzutasten und zu bestehlen, gefiel Kara überhaupt nicht. Aber wenn sie auf eine ganze Armee dieser Typen stießen... Sie watete in das eiskalte Wasser und drehte mit heftigem Widerwillen den Leichnam herum. Es war der Mann mit dem gläsernen Gewehr. Aber wie sie erwartet hatte, hatte der Sturz aus eineinhalb Meilen nicht nur seinen Körper und sein Gesicht, sondern auch den zerbrechlichen Lauf der Waffe zertrümmert. Enttäuscht ließ sie ihn los, griff dann noch einmal zu und suchte nach der Laserpistole an seinem Gürtel, fand sie aber nicht. Die Schicksalsgötter schienen nicht ganz auf ihrer Seite zu stehen.
»Kara!« Elders Stimme klang alarmiert.
Sie drehte sich um und watete zum Ufer zurück, froh, aus dem eisigen Wasser herauszukommen. Die Kälte machte bereits ihre Beine taub. »Was ist?«
Elder war am Ufer auf- und abgegangen und untersuchte die Felsen, als hätte er noch nie einen Stein gesehen. Jetzt beugte er sich vor und hob etwas auf, das Kara auf den ersten Blick für ein Büschel Haare hielt.
»Tang«, sagte er. »Und weiter oben habe ich Muschelschalen gefunden. Und tote Fische. Und sieh mal dort oben, an der Wand - erkennst du die Linien im Fels?«
Kara tat ihm den Gefallen und legte den Kopf in den Nacken.
Sie sah nichts, aber sie nickte trotzdem.
»Das sind Wassermarkierungen«, sagte Elder aufgeregt. »Verstehst du, was das bedeutet?«
»Ja«, sagte Kara und schüttelte den Kopf.
Elder nahm ihre Antwort nicht einmal zur Kenntnis. »Du hattest recht, Kara. Diese Höhle muß früher völlig unter Wasser gestanden haben. Und es kann noch nicht lange her sein. Ein paar Monate, allerhöchstens ein Jahr! Der Wasserspiegel sinkt, verstehst du?« Plötzlich wurde seine Stimme zu einem zitternden Krächzen. »Verstehst du jetzt, warum der Hochweg stirbt?«
»Ich glaube... schon«, murmelte Kara. Ihr Blick suchte die titanischen Wurzelstränge, die wie Säulen, die den Himmel trugen, von der Decke hingen. Vielleicht war es kein Irrtum gewesen, als sie geglaubt hatte, sie sähen wie totes Haar aus.
»Du meinst, sie sind -«
»Verdurstet, ja«, führte Elder den Satz zu Ende. »Sieh doch selbst! Die Wurzeln müssen bis tief ins Wasser hineingereicht haben. Und als der Wasserspiegel gesunken ist, da... da sind sie abgestorben.«
Kara blickte die traurig herabhängenden Riesenwurzeln mit neuem Schrecken an. Wenn Elder recht hatte, dann war das Schrecklichste nicht einmal das, was er ausgesprochen hatte, sondern vielmehr das, was er nicht gesagt hatte. Nur die allerwenigsten Riesenwurzeln reichten überhaupt noch bis aufs Wasser herab. Und wenn der Wasserspiegel weiter sank, dann würde dieses riesige Pflanzenwesen, das die meisten Bewohner Schelfheims für nichts anderes als eine Brücke hielten, binnen weniger Wochen oder vielleicht auch nur Tage verdursten und absterben.
»Glaubst du, daß... daß sie etwas damit zu tun haben?« flüsterte sie.
Elder schwieg eine ganze Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann. »Aber auf jeden Fall wissen sie etwas darüber. Und allein dafür, daß sie dieses Wissen geheimgehalten haben, werden sie bezahlen, das verspreche ich dir.«
»Dazu müssen wir sie aber zuerst einmal finden«, gab Kara zu bedenken.
Elder wies mit einem zornigen Schnauben auf das Zelt und die kristallene Flugscheibe. »Früher oder später werden sie schon hier auftauchen, um nachzusehen, was aus ihren beiden Freunden geworden ist.«
»Ja. Dreißig Mann hoch und bis an die Zähne bewaffnet«, knurrte Kara. »Nein - wir müssen vorher etwas unternehmen.« Sie sah sich suchend um, blickte einen Moment zu dem durch die große Entfernung winzig erscheinenden Loch in der Höhlendecke hinauf und sah dann wieder zum Zelt zurück.
»Vielleicht können wir mit diesem Ding da etwas anfangen.«
Kara wies auf die Kristallscheibe.
»Fünf Meilen weit senkrecht nach oben?« Elder schüttelte fast erschrocken den Kopf. »Das traue ich dem Ding nicht zu. Und selbst wenn, es würde Stunden dauern, und Tage, bis wir zurück sind. Dann sind die Burschen längst auf und davon. Willst du das Risiko eingehen?«
Und Angellas Mörder entkommen lassen? Nein! »Dann suchen wir sie! Dieses Ding da fliegt auch über dem Wasser?«
»Suchen? Wo denn?« Elder lachte humorlos und machte eine weit ausholende Geste. »Wir wissen ja nicht einmal, wie groß diese verdammte Höhle ist. Es können Hunderte von Meilen sein! Wie lange willst du denn suchen?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ich... bin nicht sicher«, gestand Elder. »Aber das Funkgerät scheint ganz ähnlich zu funktionieren wie unsere Geräte. Es ist sehr leistungsstark, glaube ich. Wenn ich damit klarkomme und die Antenne auf den Schacht ausrichte...«
»Dann versuch es!« sagt Kara ungeduldig. »Worauf wartest du?«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Elder. »Ich sagte, es ähnelt unseren Geräten. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob ich es schaffe.«
»Warum probierst du es nicht einfach aus?«
»Damit unsere schießwütigen Freunde beim ersten Pieps hier sind?« Elder machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe genau einen Versuch. Und ich übernehme keine Garantie, wen ich damit hierherbringe.«
»Haben wir denn eine Wahl?« fragte Kara.
Elder nickte und verschwand wortlos wieder in dem durchsichtigen Kugelzelt. Kara dachte einen Moment darüber nach, ihm zu folgen, schon um der Kälte und Feuchtigkeit zu entgehen, aber dann zog sie es doch vor, draußen zu bleiben. Es gab eine Menge, worüber sie nachdenken mußte.
Über Elder zum Beispiel. Sie beobachtete ihn eine Weile, wie er über dem fremdartigen Funkgerät saß und versuchte, es in Gang zu bringen. Plötzlich wurde Kara klar, was sie von ihm verlangte. Im Grunde verstand er so wenig von der Technik der Alten Welt wie sie oder irgendein anderer. Niemand verstand wirklich etwas davon. Sie waren wenig mehr als Lumpensammler, die in den Trümmern einer vor zweihundert Jahrtausenden untergegangenen Welt herumstocherten und dann und wann etwas fanden. Elders Funkgerät, seine Waffen, der Scheinwerfer, das Gerät, das er als Trigger bezeichnet hatte - nützliche Dinge, von denen es, wie manche meinten, viel zu wenige gab und die nur den Privilegierten oder dem Militär vorbehalten waren.
Aber wozu auch? Sie hatten während der vergangenen zweihunderttausend Jahre bewiesen, daß es andere Arten zu leben gab. Sie hatten ihre Hornköpfe, die die schweren Arbeiten erledigten; Männer und Frauen mit magischen Heilkräften und Dinge wie die riesige, lebende Brücke Schelfheims. Und Menschen wie Elder und Angella, um diese Welt zu bewachen. Sie hatten sich eine Welt erschaffen, die völlig auf den Kräften der Natur basierte und keinerlei Technik mehr brauchte. Das, was aus der Alten Zeit noch übrig war, würde auch noch verschwinden, in tausend oder auch vielleicht erst in weiteren zweihunderttausend Jahren - das spielte keine Rolle. Ihre Kultur, so primitiv sie einem Bewohner der Alten Welt auch vielleicht vorgekommen wäre, hatte länger überdauert als jede andere zuvor.
Und sie würde auch weiterexistieren, wenn das letzte von Elders geliebten technischen Spielzeugen schon längst zu Staub zerfallen war.
Falls nicht jemand kam und etwas dagegen unternahm.
Ihr Blick suchte den toten Mann im Wasser, und wieder verspürte sie ein kurzes, eisiges Frösteln, das nichts mit der Kälte in der Höhle zu tun hatte. Der Gedanke erschien ihr in den ersten Momenten schlichtweg absurd - wie sollten diese Männer, ganz gleich, mit welchem technischen Erbe der Alten Welt sie ausgestattet waren, eine ganze Welt in Gefahr bringen? Und was war bisher schon passiert? Selbst, wenn das Brücken-Tier starb, ja, selbst wenn ganz Schelfheim unterging - das würde die Welt nicht in ihren Grundfesten erschüttern.