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Verblüfft wandte Kara sich an Angella. »Wieso versinkt die Brücke nicht im Boden?« fragte sie. »Wie die Häuser! Sie ist viel schwerer!«

»Aber das tut sie«, antwortete Angella. »Unentwegt.«

Kara blickte sie an und wartete darauf, daß Angella weitersprach und ihre Worte erklärte. Aber Angella schwieg nur und ritt langsam auf der gigantischen Brücke weiter.

Das Treiben auf der Brücke wurde geschäftiger, je weiter sie vorankamen. Kara entdeckte die Wege, die in die einzelnen Stadtviertel führten: große, kühn geschwungene Bögen, über die sich ein Strom von Menschen und Fahrzeugen wälzte. Bald wurde der Verkehr so heftig wie auf einer belebten Straße am Markttag.

Einmal noch mußten sie innehalten, als sie an eine Schranke gerieten. Ein bewaffneter - und wesentlich sauberer - Wächter trat zu Angella und verlangte die gelben Zettel, die ihr der schmutzige Kerl oben am Kliff gegeben hatte.

Der Torwächter war nicht allein. Ein Stück abseits stand ein zweiter Bewaffneter, der Angella und ihre Begleiter mit undeutbarem Gesichtsausdruck musterte. Und ein Stück hinter ihm...

... waren sechs oder acht Hornköpfe postiert, genau ließ sich das nicht erkennen, weil sie sich im Schatten eines Gebäudes aufhielten. Sie waren bewaffnet, bis auf zwei, die das offenbar nicht nötig hatten, denn was ihnen die Natur an Panzern, Scheren und Stacheln mitgegeben hatte, reichte, um eine kleine Armee auszurüsten. Die größere der beiden Käfergestalten sah aus, als wäre sie in der Lage, Hrhon in Stücke zu reißen, ohne dabei mehr als die Hälfte ihrer Klauen und Scheren benutzen zu müssen.

Der Wächter hatte schließlich die Zettel durchgezählt.

Angella händigte ihm die geforderte Summe aus, über deren Höhe Kara ziemlich staunte, und dann durften sie passieren.

Als sie durch die Sperre ritten, fiel Kara auf, daß nicht alle, die die Brücke verließen, bezahlen mußten. Vermutlich hatten die Einwohner Schelfheims keinen Wegezoll zu entrichten.

Und dann - endlich - waren sie in Schelfheim angekommen, und der Lärm und die Hektik der Stadt schlugen wie eine Woge über ihnen zusammen.

Kara kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Obwohl keines der Gebäude höher als zehn Meter war, wirkte alles hier irgendwie riesig, auf eine fast gewalttätige und zugleich faszinierende Art mächtig. Schelfheim war laut und schmutzig, die Luft roch schlecht, und auf den Straßen war es so eng, daß sie nur zu oft gar nicht mehr von der Stelle kamen. Aber all das registrierte Kara kaum, war sie doch ganz gebannt vom faszinierenden Anblick dieser Stadt. Und sie begriff plötzlich, warum Angella so nachhaltig darauf bestanden hatte, daß sie sie begleitete. Es gab einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Sie hatte die letzten zehn Jahre in der Sicherheit des Drachenhortes verbracht; das war die Theorie. Diese laute, hektische, stinkende, entsetzlich schöne Stadt, das war die Wirklichkeit. Angella hatte es ihr zigmal erklärt, aber verstanden hatte Kara das, was ihre Lehrerin damit meinte, nicht. Erst jetzt begriff sie.

»Wohin wollen wir?« fragte Kara. Sie mußte schreien, um sich überhaupt verständlich zu machen.

Angella verhielt ihr Pferd und sah sich unschlüssig um. Sie hob die Schultern. »Ich bin nicht ganz sicher«, gestand sie schließlich. »Als ich das letzte Mal hier war, sah es anders aus. Wir besuchen einen guten alten Freund«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Er wird dir gefallen.«

»Wenn du den Weg wiederfindest.«

»Wenn ich den Weg wiederfinde.«

Sie lachten beide, und plötzlich löste sich das Gedränge vor ihnen so weit auf, daß sie weiterreiten konnten. Sie verließen den Hauptweg und ritten über weniger belebte Nebenstraßen.

Kara vermutete, daß es ein Umweg war, aber sie kamen wenigstens wieder voran.

Der Himmel über der Stadt begann bereits seine Farbe zu verlieren, als sie endlich ihr Ziel erreichten: ein weitläufiges, aber in sehr einfachem Stil gehaltenes Gebäude, an das sich ein großer, von zahlreichen Stallungen gesäumter Hinterhof anschloß.

Durch ein festungsähnliches Tor ritten sie in den Hof hinein und übergaben die Zügel ihrer Pferde einigen Hornköpfen, die diensteifrig herbeigeeilt kamen.

Kara streckte sich. Sie hatten vier Tage fast pausenlos im Sattel gesessen. Ein Pferd zu reiten war wesentlich anstrengender als der Ritt auf einem Drachen. Mittlerweile glaubte Kara, jeden Muskel in ihrem Körper spüren zu können.

Am schlimmsten aber hatte es Hrhon erwischt. Er stieg nicht vom Rücken seines Tieres, er ließ sich einfach hinunterfallen und blieb einen Moment reglos liegen. Zwei oder drei Männer warfen ihm mitleidige Blicke zu, aber keiner rührte auch nur eine Hand, um ihm zu helfen. Es wäre allerdings auch ein sinnloses Unterfangen gewesen, einem vierhundert Pfund schweren Waga auf die Füße helfen zu wollen.

Trotzdem streckte Kara nach einem Augenblick des Zögerns hilfreich die Hand aus. Hrhon nahm sie und ließ sich von ihr in die Höhe helfen.

»Wie geht es dir?« fragte Kara, als Hrhon schwankend vor ihr stand. Wagas boten an sich keinen sehr eleganten Anblick, aber nach einem Fünftageritt wirkten sie einfach erbärmlich.

»Ghut«, antwortete Hrhon. Er sah sie betreten an. Es waren die ersten Worte, die sie seit fünf Tagen miteinander wechselten.

Kara hatte sich damit abgefunden, daß sie an Angellas Befehl nichts ändern konnte, aber in Hrhon hatte sie einen Sündenbock gefunden. Daß er nicht ihre, sondern Angellas Partei ergriffen hatte, nahm sie ihm mehr als übel.

»Das war... ein anstrengender Ritt, nicht wahr?« sagte sie, nur um etwas zu sagen. Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden; Entschuldigungen waren ihr stets schwer über die Lippen gegangen, und Hrhon tat nichts, ihr die Situation zu erleichtern. Er nickte lediglich, was bei einem Wesen, das keinen Hals hatte, recht komisch aussah.

In diesem Moment aber öffnete sich hinter ihr eine Tür, und als sie sich umdrehte, sah sie Angella mit einem Freudenschrei einen grauhaarigen Mann umarmen, ein Verhalten, das für ihre stets so beherrschte Lehrerin höchst ungewöhnlich war.

»Jan!« rief Angella. »Daß es dich noch gibt! Und du hast dich überhaupt nicht verändert! Du bist noch immer genauso häßlich wie das letzte Mal!« Sie drückte den gewiß nicht schwächlichen Mann so ungestüm an sich, daß ihm die Luft wegblieb und er alle Mühe hatte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien.

»Ja?«

Kara wandte den Kopf, und in diesem Moment stürmte Hrhon mit hochgerissenen Armen an ihr vorbei. Angella machte einen hastigen Schritt zur Seite, und auch Jan versuchte zurückzuweichen, aber er war nicht schnell genug. Der Waga prallte gegen ihn und schob den Mann unter lautem Gejohle und Getöse zurück ins Haus. Einen Moment später erschienen Hrhon und Jan wieder unter der Tür: beide grinsten wie die Honigkuchenpferde.

»Angella!« begann Jan schwer atmend. »Ich freue mich, daß du gekommen bist. Und du hast Hrhon und so viele Freunde mitgebracht. Wie ich sehe, macht sich deine Drachenbrut hervorragend!« Seine Augen drückten ehrliche Freude aus, während sein Blick über Angellas Begleiter glitt. Zuletzt musterte Jan das Mädchen Kara, das seinen freundlichen Blick erwiderte. »Kara?« fragte er. »Du hast dich verändert, Kind.«

Wenn er jetzt sagt, du bist ja eine junge Frau geworden, dachte Kara, dann springe ich ihm an die Kehle!

»Du bist ja eine richtige junge Frau geworden?« sagte Jan.

Kara lächelte. »Kennen wir uns?«

»Ich war ein paarmal bei euch im Drachenhort«, antwortete Jan. »Aber daran erinnerst du dich nicht mehr. Du warst noch ein kleines Kind damals.« Er lachte, doch Kara tat ihm nicht den Gefallen, in dieses Lachen einzustimmen! Nein, sie erinnerte sich nicht. Natürlich wußte sie, wer Jan war - schließlich hatte Angella oft genug von ihm erzählt, aber das war ein ganz anderer Jan gewesen. Der Jan, der vor ihr stand, war ein alter Mann, ein uralter Mann. Sein Gesicht war schmal und so ausgemergelt, als stünde er kurz vor dem Hungertod. Graue Schatten lagen auf seinen Wangen, und sein Haar war dünn und strähnig.