Das bloße Auftauchen der gefürchteten schwarzsilbernen Uniformen lähmte den Mob für einen winzigen Moment, den die Kämpfer nutzten, um die Straße zu überqueren und sich ins Getümmel zu stürzen.
Eine blutige Schlacht begann. Von überall her strömten Männer herbei, um sich den Kämpfenden anzuschließen und wild um sich zu schlagen. Kara sah mehr als einen Mann, der sich einfach auf die erstbeste Gestalt stürzte und auf sie eindrosch.
Offenbar gab es auch in den vornehmeren Vierteln Schelfheims Raufbolde, denen der bloße Anblick eines Gesichtes Grund genug war, es einzuschlagen. Der Straßenkampf nahm den Charakter einer außer Kontrolle geratenen Wirtshausschlägerei an.
Allmählich begann Kara die Sache ein gewisses Vergnügen zu bereiten. Sie steckte nicht nur ihr Schwert, sondern auch eine Menge Schläge ein, aber sie teilte weit kräftiger aus.
Plötzlich hörte sie einen hohen, summenden Laut, den sie im allerersten Moment nicht richtig einschätzen konnte, der aber äußerst bösartig klang und rasch näher kam. Ein Schatten fiel über die Straße, und als sie aufsah, erblickte sie eine Anzahl riesiger, geflügelter Hornköpfe, die dicht über den Köpfen der Menge schwebten. Ihre Flügel bewegten sich so schnell, daß sie zu flirrenden Schatten wurden. In den Sätteln hinter den flachen Schädeln saßen Gestalten in schreiend gelben Mänteln.
»Aufhören!« dröhnte eine Stimme in den Tumult. »Sofort aufhören! Ihr habt genau eine Minute Zeit, die Straße zu räumen, dann eröffnen wir das Feuer!«
Und wer immer diese Worte sprach, er schien jedenfalls über ein sonderbares Zeitgefühl zu verfügen, denn es vergingen keine zwei Augenblicke, ehe die ersten Blitze vom Himmel zuckten und in die Menge fuhren.
Kara war eine der ersten, die getroffen wurde - was ganz gewiß kein Zufall war.
6
»Was hattest du eigentlich vor - einen Krieg anzufangen? Wenn ja, dann ist es dir fast gelungen!« Angellas Stimme war leise, aber so schneidend wie eine Glasscherbe.
Kara hatte die schlimmsten Kopfschmerzen ihres Lebens. Tränen liefen aus ihren Augen, und selbst wenn sie hätte antworten wollen, hätte sie es gar nicht gekonnt. Wenn sie auch nur versucht hätte, den Mund aufzumachen, dann hätte sie vermutlich vor Schmerz geschrien.
Angella erwartete auch gar keine Antwort, denn sie fuhr unvermittelt fort: »Ich sollte dich auf der Stelle zurückschicken und dich zu den Mägden in die Küche stecken, damit du ein Jahr lang Gemüse putzen und die Fußböden schrubben kannst. Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?«
Kara blickte sie aus tränenerfüllten Augen an. »Es... es tut mir leid«, brachte sie mühsam hervor. »Ich war... ich war einfach schlechter Laune. Ich wußte nicht, was ich tat.«
»Schlechter Laune?« Trotz der Maske konnte Kara den Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit auf Angellas Gesicht sehen.
»Schlechter Laune?« wiederholte Angella ungläubig. Sie beugte sich vor. »Und deshalb schlägst du vier Mann der Stadtgarde grundlos zusammen und entfesselst einen kleinen Bürgerkrieg? Bist du völlig übergeschnappt?!« Sie begann zu zittern, beugte sich so weit vor, daß sie fast von der Stuhlkante gefallen wäre, und richtete sich hastig wieder auf.
»Wir werden sehr bald darüber reden«, sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Das verspreche ich dir.« Sie machte eine wedelnde Handbewegung, und Kara atmete bereits auf, denn sie nahm an, daß das unangenehme Gespräch zumindest für den Moment beendet war. Aber da mischte sich der Mann im gelben Mantel der Stadtgarde ein, der bisher schweigend und mit vor der Brust verschränkten Armen an der Tür gelehnt hatte.
»Verzeih, Angella«, sagte er kalt, »aber ich fürchte, so einfach ist die Sache nicht.«
Angella sah mit einem Ruck auf. »So?« sagte sie lauernd.
Der Mann stieß sich von der Tür ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war sehr groß, wirkte aber nicht sehr kräftig. »Nein«, bestätigte er kopfschüttelnd, hob die linke Hand und begann an den Fingern abzuzählen: »Ein Dutzend meiner Männer wurden verletzt, einige davon so schwer, daß sie wochenlang das Krankenlager hüten müssen. Von den verwundeten Bürgern gar nicht zu reden. Wir haben mehrere Pferde, einen Flieger und Ausrüstung von bisher noch nicht einmal abzuschätzendem Wert verloren.«
Ein Flieger? dachte Kara. Offensichtlich war der Kampf noch weitergegangen, nachdem sie weggetreten war. Es sah so aus, als hätte sie das Beste verpaßt.
»Davon, daß ungefähr drei Dutzend Verordnungen übertreten wurden, rede ich erst gar nicht«, sagte der Soldat noch.
Angella seufzte. »Das sehe ich ein«, sagte sie. »Und was erwartet Ihr jetzt von mir, Elder?« Sie deutete auf Kara. »Reicht es, wenn ich sie öffentlich auspeitschen lasse, oder soll ich sie gleich auf der Stelle erschießen?«
Elder machte eine zornige Handbewegung. »Es gab einen Aufstand, Angella! Der Mob hat die Barrikade gestürmt, deren Besatzung deine Schülerin niedergeschlagen hat. Wir brauchten fast eine Stunde, um die Ordnung wiederherzustellen. Und ich fürchte, einige dieser... Viecher schleichen noch in der Stadt herum!«
Angella seufzte erneut. Sie stand auf. Kara sah, daß ihr Umhang völlig verdreckt und an einer Seite eingerissen war.
»Sagt mir eins, Elder«, begann sie in fast freundlichem Tonfall. »Seid Ihr vielleicht nur so wütend, weil es einem Mädchen von neunzehn Jahren gelungen ist, vier Eurer prachtvollen Paradesoldaten aus den Stiefeln zu stoßen?«
»Wohl eher diesem... Tier, das sie bei sich hat«, sagte Elder grimmig.
Angella warf einen fragenden Blick auf Kara. Das Mädchen schüttelte vorsichtig den Kopf. »Hrhon hat nichts damit zu tun«, gestand sie niedergeschlagen. »Ich war es allein.«
Sie konnte sich täuschen - aber für einen kurzen Moment hatte sie das sichere Gefühl, daß Angella hinter ihrer Maske alle Mühe hatte, ein Lächeln zu unterdrücken. Elder schürzte zornig die Lippen.
»Und wenn schon! Sie hat die Sperre durchbrochen. Sie hat einen Waga in diesen Teil der Stadt gebracht!«
»Was natürlich ein todeswürdiges Verbrechen ist«, erklärte Angella mit kaum noch verhohlenem Spott.
»Dieses Viertel ist nur Menschen vorbehalten«, beharrte Elder stur. »So sind nun einmal die Vorschriften.«
»Sicher«, seufzte Angella und fügte hinzu: »Mit Verlaub, Elder - ziemlich schwachsinnige Vorschriften.«
Elder zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie nicht gemacht. Aber ich bestehe darauf, daß etwas geschieht! Das Mädchen und der Waga müssen die Stadt verlassen!«
»Das Mädchen und der Waga«, erwiderte Angella ruhig, »werden die Stadt verlassen, sobald die anderen und ich gehen. Wir sind zusammen gekommen, und wir gehen auch zusammen.«
Elder funkelte sie an. »Ich kann auch anders, Angella«, sagte er leise und in einem Ton, der eine unverhohlene Drohung enthielt, Angella aber nicht im mindesten beeindruckte. »Wollt Ihr mich wirklich zwingen, das Mädchen zu verhaften und bis zum Tag Eurer Abreise in Ketten zu legen?«
»Dann würden wir unverzüglich abreisen, Elder«, versetzte Angella kalt. »Falls Ihr es vergessen haben solltest - wir sind hier, weil Euer Stadtrat uns gerufen hat. Ihr könnt dieses Mädchen nicht verhaften. Es untersteht meiner Gewalt, nicht Eurer. Ich verspreche Euch, daß sie bestraft wird, aber auf meine Art und von mir.«
»Wie Ihr wollt, Angella«, antwortete Elder. Sein Gesicht war wie Stein, aber seine Augen brannten vor Zorn. »Doch ich werde dieses... Kind im Auge behalten, das verspreche ich Euch.«