Der Mann im grünen Mantel sagte:»Ich habe gehört, diese Höllenhündin sei mitten in ein Dorf gekommen… am Markttag, als überall Leute waren, und habe einer Mutter den Säugling von der Brust gerissen. Als Lord Mooton davon erfahren hat, haben er und seine Söhne geschworen, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Sie haben die Spuren der Wölfin mit einer Meute Wolfshunde bis zu ihrem Unterschlupf verfolgt und sind mit Mühe und Not mit dem nackten Leben davongekommen. Und keiner der Hunde ist zurückgekommen.«
«Das ist doch bloß ein Ammenmärchen«, platzte Arya heraus.»Wölfe fressen keine Säuglinge.«
«Und woher weißt du das so genau, Junge?«fragte der Mann im grünen Mantel.
Bevor sie zu einer Antwort ansetzen konnte, packte Yoren sie am Arm.»Dem Jungen ist das Bier zu Kopfe gestiegen, das ist alles.«
«Nein, ist es nicht. Sie fressen keine Säuglinge…«
«Raus, Junge… und dort bleibst du, bist du gelernt hast, den Mund zu halten, wenn Männer sich unterhalten. «Er schob sie auf die Seitentür zu, die zu den Ställen führte.»Geh schon. Schau, ob der Stalljunge die Pferde getränkt hat.«
Arya trollte sich wutentbrannt nach draußen.»Tun sie eben nicht«, murmelte sie vor sich hin und trat einen Stein. Er flog davon und blieb unter den Wagen liegen.
«Junge!«rief eine Stimme nach ihr.»Hübscher Junge.«
Einer der Männer in Ketten sprach mit ihr. Vorsichtig trat Arya an den Wagen heran, wobei sie die Hand auf Needles Heft legte.
Der Gefangene hob den leeren Krug, seine Fesseln rasselten.»Der Mann könnte wohl noch einen Schluck Bier vertragen. Der Mann bekommt ganz schön Durst, wenn er diese Armbänder trägt. «Er war der jüngste der drei, schlank, hatte feine Gesichtszüge und lächelte ständig. Sein Haar war auf einer Seite rot, auf der andern weiß, und vom Aufenthalt im Kerker und von der Reise verfilzt und dreckig.»Und ein Bad könnte der Mann auch gebrauchen«, fügte er hinzu, als er Aryas Blick bemerkte.»Und du könntest einen Freund gewinnen.«
«Ich habe Freunde«, entgegnete Arya.
«Mag sein, allerdings sehe ich keine«, antwortete der ohne Nase. Er war gedrungen und dick und hatte riesige Pranken. Schwarzes Haar bedeckte seine Arme und Beine und seine Brust, sogar seinen Rücken. Er erinnerte Arya an eine Zeichnung, die sie einmal in einem Buch gesehen hatte, von einem Affen von den Summer Isles. Wegen des Lochs in seinem Gesicht konnte man ihn kaum anschauen.
Der dritte, der Glatzkopf, zischte durch die Zähne wie eine weiße Eidechse. Als Arya erschrocken zurückwich, riß er den Mund auf und ließ die Zunge hin und her schnellen, oder besser, den Stumpf, der ihm von seiner Zunge geblieben war.»Hör auf damit«, fuhr sie ihn an.
«In den schwarzen Zellen kann sich der Mann seine Gesellschaft nicht aussuchen«, sagte der gutaussehende Mann mit dem rotweißen Haar. Etwas an seiner Art zu reden erinnerte sie an Syrio; ähnlich, und doch ganz anders.»Diese beiden haben keine Manieren. Der Mann muß um Verzeihung bitten. Du heißt Arry, ist dem nicht so?«
«Klumpkopf«, warf der Nasenlose ein.»Klumpkopf
Klumpgesicht Stockjunge. Paßt gut auf, Lorath, sonst schlägt er dich mit seinem Stock.«
«Der Mann muß sich seiner Gefährten schämen, Arry«, sagte der Gutaussehende.»Dieser Mann hat die Ehre, Jaqen H'ghar zu sein, einst in der Freien Stadt Lorath heimisch. Wäre es doch noch immer so! Die ungehobelten Gefährten, die mit dem Mann das Schicksal der Gefangenschaft teilen, heißen Rorge«- er deutete mit dem Krug auf den Nasenlosen — »und Beißer. «Beißer zischte erneut und bleckte die gelben, spitzgefeilten Zähne.»Ein Mann muß doch einen Namen haben, ist dem nicht so? Beißer kann nicht sprechen, und Beißer kann nicht schreiben, doch seine Zähne sind sehr scharf, und deshalb nennt der Mann ihn Beißer, und er lächelt. Gefällt dir das?«
Arya wich von dem Wagen zurück.»Nein. «Sie können mir nichts tun, redete sie sich zu, sie sind doch angekettet.
Er drehte den Krug um.»Der Mann muß weinen.«
Rorge, der Nasenlose, schleuderte fluchend seinen Krug nach ihr. Wegen der Handschellen waren seine Bewegungen unbeholfen, und trotzdem hätte das schwere Ding aus Zinn ihren Kopf getroffen, wäre sie nicht zur Seite gesprungen.»Hol uns Bier, Bengel. Sofort!«
«Halt den Mund!«Arya überlegte, was Syrio in dieser Lage getan hätte. Sie zog das hölzerne Übungsschwert.
«Komm nur her«, forderte Rorge sie auf,»und ich schieb dir diesen Stock in den Arsch und besorg's dir, bis du blutest.«
Angst schneidet tiefer als Schwerter. Arya zwang sich, auf den Wagen zuzutreten. Jeder Schritt fiel ihr schwerer als der vorige. Wild wie eine Wölfin, ruhig wie stilles Wasser. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Sie konnte schon fast das Rad berühren, da sprang Beißer auf und griff nach ihrem Gesicht, wobei seine Ketten laut rasselten. Die Fesseln rissen seine Hände einen halben Fuß vor ihrem Gesicht zurück. Er zischte.
Sie schlug ihn. Hart und mitten zwischen die kleinen Augen.
Brüllend fuhr Beißer zurück und warf sich erneut mit seinem ganzen Gewicht in die Ketten. Die Glieder verdrehten und spannten sich, und Arya hörte das alte trockene Holz ächzen, wo die großen Eisenringe im Boden des Wagens verankert waren. Riesige weiße Pranken langten nach ihr, während die Venen an Beißers Armen hervortraten, aber die Fesseln hielten, und schließlich sank der Kerl in sich zusammen. Blut rann aus den nässenden Wundstellen auf seinen Wangen.
«Der Junge hat mehr Mut als Verstand«, meinte der Mann, der sich Jaqen H'ghar genannt hatte.
Arya zog sich von dem Wagen zurück. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, fuhr herum und riß das Holzschwert erneut hoch, aber es war nur der Bulle.»Was willst du?«
Er hob die Hand zur Abwehr.»Yoren hat gesagt, keiner von uns soll den dreien zu nahe kommen.«
«Mir machen sie keine Angst«, erwiderte Arya.
«Dann bist du dumm. Ich fürchte mich vor ihnen. «Der Bulle legte die Hand auf das Heft seines Schwertes, und Rorge lachte lauthals.»Hauen wir hier ab.«
Arya zog die Füße nach, ließ sich jedoch vom Bullen zum Gasthaus führen. Rorges Lachen und Beißers Zischen folgten ihnen.»Hast du Lust auf einen kleinen Kampf?«fragte sie den Bullen. Es drängte sie danach, auf etwas einzudreschen.
Er blinzelte sie überrascht an. Das dicke schwarze Haar, das vom Bad noch naß war, fiel ihm strähnig in die tiefblauen Augen.»Ich würde dir weh tun.«
«Würdest du nicht.«
«Du hast keine Ahnung, wie stark ich bin.«
«Und du hast keine Ahnung, wie schnell ich bin.«
«Es war deine Idee, Arry. «Er zog Praeds Langschwert.
«Zwar nur billiger Stahl, aber ein echtes Schwert.«
Arya zog Needle.»Dieser Stahl ist gut, also ist mein Schwert um so echter.«
Der Bulle schüttelte den Kopf.»Versprich mir, nicht zu weinen, wenn ich dich verletze.«
«Wenn du mir das gleiche versprichst. «Sie drehte sich zur Seite und nahm die Haltung der Wassertänzerin ein, aber der Bulle rührte sich nicht. Er blickte an ihr vorbei.»Was ist los?«
«Goldröcke. «Er verzog das Gesicht.
Das kann nicht wahr sein, dachte Arya, doch als sie einen Blick über die Schulter warf, kamen sie tatsächlich die Straße herauf, sechs Männer in den schwarzen Kettenhemden und den goldenen Umhängen der Stadtwache. Einer von ihnen war ein Offizier, er trug einen schwarz emaillierten Brustpanzer, der mit vier goldenen Kreisen verziert war. Sie hielten vor dem Gasthaus. Sieh mit deinen Augen, schien Syrio ihr zuzuflüstern. Ihre Augen sahen weißen Schaum unter den Sätteln; die Pferde waren lange und hart geritten worden. Ruhig wie stilles Wasser packte sie den Bullen am Arm und zerrte ihn hinter eine hohe, blühende Hecke.