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Sam nickte unglücklich. Die Regale standen so dicht, daß sie hintereinander gehen mußten. Das Gewölbe mündete in einen der Tunnel, die die Brüder Wurmhöhlen nannten, verschlungene unterirdische Gänge, welche die Türme und Festungsbauten von Castle Black verbanden. Im Sommer wurden die Wurmhöhlen selten benutzt, aber im Winter war das anders. Wenn der Schnee fünfzehn, gar zwanzig Meter hoch lag und die eisigen Winde heulend aus dem Norden heranbrausten, hielten allein diese Gänge Castle Black zusammen.

Bald, dachte Jon, während sie nach oben stiegen. Er hatte den Vogel gesehen, der Maester Aemon die Nachricht vom

Ende des Sommers überbracht hatte, den großen Raben der Citadel, so weiß und still wie Ghost. Einen Winter hatte er bereits erlebt, wenngleich er damals noch sehr jung gewesen war, doch jeder stimmte darin überein, daß es sich um einen sehr kurzen und milden gehandelt hatte. Dieser würde anders werden. Er spürte es in den Knochen.

Die Steintreppe war sehr steil und oben angekommen, schnaufte Sam wie der Blasebalg eines Schmiedes. Sie traten hinaus in den frischen Wind, der Jons Mantel aufblähte. Ghost lag lang ausgestreckt vor dem Speicher und schlief, wachte jedoch auf, als Jon sich näherte. Er hielt den weißen Schwanz steif in die Höhe und trabte auf ihn zu.

Sam blickte an der Mauer hinauf. Sie ragte hoch über ihnen auf, eine zweihundert Meter hohe eisige Klippe. Manchmal erschien sie Jon fast lebendig, als wäre sie eigenen Stimmungen unterworfen.

Die Farbe des Eises veränderte sich mit jedem Lichtwechsel. Mal war sie tiefblau wie ein gefrorener Fluß, dann schmutzigweiß wie alter Schnee, und wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob, wurde sie grau wie Stein. Nach Westen und Osten erstreckte sie sich, so weit das Auge reichte, und sie war dermaßen riesig, daß die Türme und Steingebäude der Burg winzig wirkten. Hier war das Ende der Welt.

Und wir schreiten darüber hinaus.

Dünne graue Wolkenstreifen hingen am Morgenhimmel, durch die eine blasse rote Linie schimmerte. Die Schwarzen Brüder hatten den Kometen Mormonts Fackel genannt, weil sie nur halb im Scherz meinten, die Götter hätten ihn geschickt, um den Weg des alten Mannes durch den Verwunschenen Wald zu beleuchten.

«Der Komet ist so hell, man kann ihn sogar bei Tag sehen«, sagte Sam und beschattete die Augen mit den Büchern.

«Vergiß den Kometen, der Alte Bär wartet auf die Karten.«

Ghost sprang vor ihnen her. Der Hof wirkte heute morgen verlassen; viele der Grenzer waren nach Mole's Town gezogen, suchten in den Bordellen nach vergrabenen Schätzen und betranken sich bis zum Umfallen. Grenn war auch dabei. Pyp und Halder und Toad hatte ihm angeboten, zur Feier seiner ersten Patrouille seine erste Frau für ihn zu bezahlen. Jon und Sam hatten ebenfalls mitkommen sollen, aber Sam fürchtete sich vor Huren beinahe ebensosehr wie vor dem Verwunschenen Wald, und Jon verspürte keine Lust auf solcherlei Vergnügungen.»Macht, was ihr wollt«, sagte er zu Toad,»ich habe einen Eid geleistet.«

Sie kamen an der Septe vorbei, aus der sie Gesang hörten. Manche Männer drängt es am Vorabend der Schlacht zu den Huren, andere zu den Göttern. Jon fragte sich, wer sich wohl anschließend besser fühlte. Die Septe zog ihn kaum mehr an als das Bordell; seine Götter hatten ihre Tempel an wilden Orten, wo Wehrholzbäume ihre knochenweißen Äste ausbreiteten. Jenseits der Mauer haben die Sieben keine Macht, dachte er, aber meine Götter werden dort warten.

Vor der Waffenkammer übte Ser Endrew Tarth mit frischen Rekruten. Sie waren gestern abend mit Conwy eingetroffen, einer der Wanderkrähen, welche die Sieben Königslande durchstreiften und Männer für die Mauer zusammensuchten. Dieser neue Trupp bestand aus einem Graubärtigen, der auf einem Stab lehnte, zwei blonden Jungen, die wie Brüder aussahen, einem jungen Geck in fleckigem Seidengewand, einem Zerlumpten mit einem Klumpfuß und einem grinsenden Idioten, der sich offenbar für einen Krieger hielt. Ser Endrew machte ihn gerade auf seinen Irrtum aufmerksam. Gewiß war er kein so gestrenger Waffenmeister wie Ser Allister Thorne es gewesen war, doch würde jeder auch nach seinen Lektionen eine Reihe blauer Flecken davontragen. Sam zuckte bei jedem Hieb zusammen, aber Jon beobachtete die Bewegungen der Fechter genau.

«Wie findest du sie, Snow?«Donal Noye stand in der Tür seiner Waffenkammer, und weil er ausnahmsweise kein Hemd unter seiner Lederschürze trug, konnte man den Stumpf seines linken Armes sehen. Mit seinem dicken Bauch und der breiten Brust, der flachen Nase und dem stoppeligen Kinn bot er zwar keinen hübschen, aber dennoch einen willkommenen Anblick. Der Waffenschmied hatte sich als guter Freund erwiesen.

«Sie riechen nach Sommer«, antwortete Jon, während Ser Endrew seinem Gegner einen Hieb verpaßte und zu Boden schickte.»Wo hat Conwy sie aufgetrieben?«

«Im Kerker eines Lords in der Nähe von Gulltown«, erwiderte der Schmied.»Ein Bandit, ein Barbier, ein Bettler, zwei Waisen und ein Lustknabe. Und mit solchem Abschaum sollen wir die Reiche der Menschen verteidigen.«

«Sie werden sich schon machen. «Jon lächelte Sam zu.»Haben wir ja auch getan.«

Noye zog ihn näher zu sich heran.»Hast du diese Gerüchte über deinen Bruder gehört?«

«Gestern abend. «Conwy und seine Neulinge hatten die Nachricht mit nach Norden gebracht, und im Gemeinschaftsraum hatte man über nichts anderes gesprochen. Jon war nicht sicher, was er darüber denken sollte. Robb, ein König? Sein Bruder, mit dem er gespielt, gekämpft und seinen ersten Becher Wein geteilt hatte? Aber nicht die Muttermilch, nein. Deshalb trinkt Robb nun Sommerwein aus edelsteinverzierten Kelchen, während ich an einem Bach knie und Schmelzwasser mit den Händen schöpfe.»Robb wird ein guter König werden«, sagte er loyal.

«Wird er das?«Der Schmied blickte ihm offen ins Gesicht.»Ich hoffe es, Junge, aber einst hätte ich das gleiche von Robert gedacht.«

«Es heißt, Ihr hättet ihm den Kriegshammer geschmiedet«, erinnerte sich Jon.

«Ja. Ich war sein Mann, ein Getreuer der Baratheons, Rüstungs- und Waffenschmied in Storm's End. Bis ich den Arm verloren habe. Ich kann mich sogar noch an Lord Steffon erinnern, ehe ihn das Meer geholt hat, so alt bin ich, und ich kenne seine drei Söhne, seit sie ihre Namen bekommen haben. Eins will ich dir sagen — Robert war nicht mehr derselbe, nachdem er sich diese Krone aufs Haupt gesetzt hat. Manche Männer sind wie Schwerter, die für den Kampf geschaffen wurden. Sobald du sie an den Nagel hängst, setzen sie Rost an.«

«Und seine Brüder?«fragte Jon.

Der Waffenschmied dachte einen Augenblick darüber nach.»Robert war der wahre Stahl. Stannis ist reines Eisen, schwarz und hart und stark, aber spröde, wie Eisen eben ist. Er bricht eher, statt sich zu beugen. Und Renly, der ist Kupfer, hell und glänzend, hübsch anzuschauen, aber was nutzt einem das am Ende des Tages?«

Und aus welchem Metall ist Robb gemacht? Jon erkundigte sich nicht danach. Noye war ein Anhänger der Baratheons; wahrscheinlich hielt er Joffrey für den rechtmäßigen König und Robb für einen Hochverräter. Unter den Brüdern der Nachtwache herrschte das ungeschriebene Gesetz, solchen Dingen nicht zu sehr auf den Grund zu gehen. Die Männer auf der Mauer stammten aus allen Sieben Königslanden, und alte Liebe und alte Treueide vergaß man nicht so schnell, ganz gleich, wie viele Schwüre ein Mann in seinem Leben leistete… und Jon wußte das selbst am besten. Sogar Sam — sein Vater war ein Vasall des Lords Tyrell von Highgarden, welcher wiederum König Renly unterstützte. Am besten vermied man solche Themen. Die Nachtwache ergriff keine Partei.»Lord Mormont wartet auf uns«, meinte Jon.