Harrenhal. Das ist Lady Whents Sitz, und sie war stets eine Freundin der Wache.«
Heiße Pastete riß die Augen auf.»In Harrenhal gibt es Gespenster… «
Yoren spuckte aus.»Soviel zu deinen Gespenstern. «Er warf den Stock in den Schlamm.»Sitzt auf.«
Arya erinnerte sich an die Geschichten über Harrenhal, die ihr Old Nan erzählt hatte. Der Böse König Harren hatte sich dort verschanzt, und Aegon hatte seine Drachen losgelassen und die Burg niedergebrannt. Nan sagte, die feurigen Geister würden noch immer in den geschwärzten Türmen umgehen. Manchmal gingen Männer abends ins Bett und wurden morgens verbrannt aufgefunden. Eigentlich glaubte Arya das nicht recht, und überhaupt hatte sich das alles vor langer Zeit zugetragen. Heiße Pastete stellte sich töricht an; in Harrenhal gab es gewiß keine Gespenster, sondern Ritter. Der Lady Whent gegenüber könnte Arya sich offenbaren, und die Ritter würden sie nach Hause eskortieren und für ihre Sicherheit sorgen. Denn wozu waren Ritter sonst da, wenn nicht, um Menschen zu beschützen, vor allem Frauen. Vielleicht würde sich Lady Whent auch um das weinende kleine Mädchen kümmern.
Der Weg am Fluß entlang war nicht gerade die Kingsroad, doch sie hätten es schlimmer treffen können, und endlich rollten die Wagen wieder einmal ohne Zwischenfall dahin. Eine Stunde vor der Abenddämmerung sahen sie das erste Haus, einen hübschen, strohgedeckten kleinen Hof inmitten von Weizenfeldern. Yoren ritt voraus und rief einen Gruß hinüber, erhielt jedoch keine Antwort.»Vielleicht sind sie tot. Oder sie verstecken sich. Dobber, Reysen, kommt mit. «Die drei betraten das Bauernhaus.»Die Töpfe sind verschwunden, und Geld ist auch nirgends zu finden«, murmelte Yoren bei ihrer Rückkehr.»Keine Tiere. Wahrscheinlich sind sie geflohen. Möglicherweise sind wir ihnen auf der Kingsroad begegnet. «Wenigstens waren Haus und Felder nicht niedergebrannt worden, und nirgends waren Leichen zu sehen. Tarber fand hinter dem Hof einen Garten, wo sie sich mit Zwiebeln und Rettich und Kohl versorgten, ehe die Reise weiterging.
Ein Stück weiter die Straße hinauf bemerkten sie in einem Waldstück eine Försterhütte, neben der Holzklötze ordentlich zum Spalten aufgeschichtet waren, und ein wenig später ein heruntergekommenes Haus auf Pfählen, das drei Meter über dem Fluß stand. Beide Gebäude waren ebenfalls verlassen. Abermals zogen sie durch Felder, Weizen und Mais und Gerste, die in der Sonne reiften, aber weder saßen Männer in Bäumen, noch patrouillierten sie mit Sensen in den Ackerhainen. Endlich kam die Stadt in Sicht, ein Gewirr von Häusern, welches sich um die Mauern der Festung ausbreitete, dazu eine große Septe mit Holzschindeldach und der Bergfried des Lords auf einer kleinen Erhebung im Westen… und nirgends waren Menschen zu sehen.
Yoren setzte sich im Sattel auf, runzelte die Stirn und kratzte sich den Bart.»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte er,»aber ich kann es nicht ändern. Schauen wir uns die Stadt an. Vorsichtig. Die Menschen verstecken sich womöglich. Und vielleicht haben sie ein Boot zurückgelassen, das wir gebrauchen können, oder ein paar Waffen.«
Der schwarze Bruder ließ zehn Mann als Wache für die Wagen und das weinende Mädchen zurück und teilte den Rest in vier Gruppen zu je fünf ein, welche die Stadt durchsuchen sollten.»Haltet Augen und Ohren offen«, warnte er, ehe er in Richtung des Turms davonritt, um nach dem Lord und seiner Garde Ausschau zu halten.
Arya wurde Gendry, Heiße Pastete und Lommy zugeteilt. Der untersetzte Woth mit dem dicken Bauch hatte früher einmal auf einer Galeere als Ruderer gedient, und somit war er der beste Seemann, den sie hatten. Yoren trug ihm auf, ans
Ufer des Sees zu gehen und nach einem Boot zu suchen. Während sie zwischen den stillen weißen Häusern hindurchschritten, kroch Arya eine Gänsehaut über die Arme. Diese leere Stadt war beinahe genauso bedrückend wie der niedergebrannte bewehrte Weiler, in dem sie das kleine Mädchen und die einarmige Frau gefunden hatten. Warum liefen diese Menschen davon und ließen ihr Heim und alles schutzlos zurück? Was hatte sie so erschreckt?
Im Westen stand die Sonne bereits tief, und die Gebäude warfen lange, dunkle Schatten. Plötzlich ertönte ein lautes Klappern, und sofort griff Arya nach Needle, doch schlug lediglich ein Fensterladen im Wind. Nach dem offenen Gelände am Fluß machte die Enge der Stadt sie nervös.
Schließlich erblickten sie zwischen Gebäuden und Bäumen den See, und Arya spornte ihr Pferd an und galoppierte an Woth und Gendry vorbei. Sie erreichte eine Wiese, die sich entlang eines Kiesstrandes erstreckte. Im Licht der untergehenden Sonne leuchtete die glatte Oberfläche des Wassers wie ein Blech aus getriebenem Kupfer. Einen so großen See hatte sie noch nie zuvor gesehen, nirgendwo konnte man das andere Ufer erkennen. Sie entdeckte links einen großen Gasthof, der auf Pfählen über das Wasser gebaut war. Zu ihrer Rechten führte ein langer Steg hinaus in den See, und weiter östlich folgten weitere wie hölzerne Finger, die aus der Stadt ragten. Aber das einzige Boot, das sie entdecken konnte, war ein Ruderboot, das umgedreht und verlassen auf den Steinen neben dem Gasthof lag und dessen Boden völlig verrottet war.»Sie sind weg«, stellte Arya niedergeschlagen fest. Was sollten sie jetzt machen?
«Dort ist ein Gasthof«, verkündete Lommy, als die anderen zu ihm aufschlossen.»Glaubt ihr, sie haben Essen zurückgelassen? Oder Bier?«
«Schauen wir doch nach«, schlug Heiße Pastete vor.
«Den Gasthof schlagt euch mal schön aus dem Kopf«, fauchte Woth.»Yoren hat uns aufgetragen, nach einem Boot zu suchen.«
«Sie haben die Boote mitgenommen. «Aus irgendeinem Grund wußte Arya, daß das stimmte; sie mochten die ganze Stadt durchkämmen, und sie würden doch nichts außer diesem Wrack eines Ruderboots finden. Bedrückt stieg sie ab und kniete sich am See hin. Das Wasser spülte sanft um ihre Beine. Die ersten Leuchtkäfer mit ihren kleinen blinkenden Lichtern wagten sich hervor. Das grüne Wasser war so warm wie Tränen, aber es war nicht salzig. Arya tauchte das Gesicht ein und wusch sich den Staub und Schmutz und Schweiß des Tages ab. Als sie sich aufrichtete, liefen ihr kleine Rinnsale über den Nacken und unter den Kragen. Es fühlte sich gut an. Sie wünschte nur, sie könnte sich ausziehen, baden und einem Otter gleich durch das warme Wasser gleiten. Am liebsten wäre sie den ganzen Weg bis Winterfell geschwommen.
Woth schrie sie an, sie solle bei der Suche helfen, und sie gehorchte, spähte in Bootshäuser und Schuppen, während ihr Pferd am Ufer graste. Sie entdeckte einige Segel, ein paar Nägel, Eimer mit hartgewordenem Teer, und eine Katze mit einem Wurf neugeborener Junge. Aber keine Boote.
Die Stadt war bereits dunkel, als Yoren und die anderen auftauchten.»Der Bergfried ist leer«, sagte er.»Der Lord ist wohl in den Kampf gezogen, oder er hat sein Volk in Sicherheit geführt. Kein Pferd und kein Schwein sind in der Stadt geblieben, aber zu essen gibt es trotzdem. Ich habe eine Gans gesehen und ein paar Hühner, und im God's Eye kann man gut fischen.«
«Die Boote sind verschwunden«, berichtete Arya.
«Wir könnten den Boden von dem Ruderboot flicken«, schlug Koss vor.