«Das würde für vier Mann von uns reichen«, meinte Yoren.
«Wir haben Nägel gefunden«, warf Lommy ein.»Und überall stehen Bäume. Wir können selbst Boote bauen.«
Yoren spuckte aus.»Färberjunge, verstehst du etwas vom Bootsbau?«Lommy machte ein verdutztes Gesicht.
«Ein Floß«, sagte Gendry.»Ein Floß kann jeder bauen, und mit langen Stangen kann man staken.«
Yoren dachte darüber nach.»Der See ist zum Staken zu tief, wenn wir jedoch am seichten Ufer blieben… nur müßten wir die Wagen zurücklassen. Vielleicht ist es das beste. Ich muß darüber schlafen.«
«Können wir in dem Gasthaus übernachten?«fragte Lommy.
«Wir lagern im Bergfried und verrammeln die Tore«, erwiderte der alte Mann.»Mir gefällt es, wenn starke Steinmauern meinen Schlaf beschützen.«
Arya konnte sich nicht zurückhalten.»Wir sollten nicht hierbleiben«, platzte sie heraus.»Die Bewohner sind auch geflohen. Alle sind verschwunden, selbst der Lord.«
«Arry hat Angst«, stichelte Lommy und lachte wiehernd.
«Hab ich nicht«, gab sie zurück,»aber die Leute hier hatten Angst.«
«Kluger Junge«, lobte Yoren.»Doch die Sache liegt folgendermaßen: Die Menschen, die hier wohnen, leben im Krieg, ob sie es nun wollen oder nicht. Wir sind von der Nachtwache. Die Wache ergreift keine Partei, daher haben wir keine Feinde.«
Und keine Freunde, dachte sie, ließ diesmal jedoch kein Wort über ihre Lippen kommen. Lommy und der Rest blickten sie an, und sie wollte sich von ihnen nicht abermals Feigling nennen lassen.
Die Tore der kleinen Festung waren mit Eisennägeln beschlagen. Im Inneren fanden sie zwei dicke Eisenstangen, die in Löcher im Boden eingelassen und mit Klammern an den
Torflügeln befestigt wurden, so daß sie ein großes X bildeten. Es war nicht gerade der Red Keep, meinte Yoren, während sie den Bergfried von oben bis unten erkundeten, aber er war besser als andere, und für eine Nacht würde er allemal ausreichen. Die Mauern bestanden aus Steinen, die man ohne Mörtel drei Meter hoch aufgeschichtet hatte, und im Inneren gab es einen Wehrgang. Im Norden entdeckten sie ein Seitentor, und Gerren entdeckte unter dem Stroh der alten Holzscheune eine Falltür, die in einen engen, gewundenen Tunnel führte. Er folgte ihm bis zum Ende und kam unten am See heraus. Yoren ließ einen Wagen auf die Falltür rollen, damit sie vor unliebsamen Überraschungen sicher wären. Er teilte sie in drei Wachen ein und schickte Tarber, Kurtz und Cutjack auf das verlassene Turmhaus, um von dort oben Ausschau zu halten. Kurtz hatte ein Jagdhorn, mit dem er bei Gefahr Alarm schlagen konnte.
Sie brachten die übrigen Wagen und Tiere herein und verriegelten das Tor. Die Scheune war groß genug, die Hälfte aller Tiere der Stadt zu fassen. Das Gebäude, in dem die Stadtbewohner in Zeiten der Gefahr Schutz gesucht hatten, war sogar noch größer, ein langes, niedriges Steinhaus mit Strohdach. Koss ging zum Seitentor hinaus, brach der Gans das Genick und dazu zwei Hühnern, und Yoren erlaubte ihnen, ein Feuer zum Kochen anzuzünden. Im Inneren des eigentlichen Wehrturmes befand sich eine große Küche, allerdings hatte man dort keinerlei Töpfe oder Gerätschaften zurückgelassen. Gendry, Dobber und Arya wurden zum Küchendienst eingeteilt. Dobber trug Arya auf, die Vögel zu rupfen, derweil Gendry Holz spaltete.»Warum kann ich nicht das Holz machen?«fragte sie, aber niemand schenkte ihr Beachtung. Mürrisch begann sie, ein Huhn zu rupfen, während Yoren am anderen Ende der Bank saß und seinen Dolch mit einem Wetzstein schärfte.
Als das Essen fertig war, verdrückte Arya ein Hühnerbein und ein paar Zwiebeln. Es wurde nicht viel gesprochen. Gendry zog sich anschließend zurück, und polierte mit abwesendem Blick seinen Helm. Das kleine Mädchen jammerte und weinte, bis Heiße Pastete ihm ein Stück Gans gab, das es hinunterschlang und daraufhin hungrig in die Runde schaute und auf mehr hoffte.
Arya hatte die zweite Wache gezogen, und so suchte sie sich im großen Gebäude eine Strohmatratze. Das Einschlafen fiel ihr schwer, und so lieh sie sich Yorens Stein und wetzte Needle. Syrio Forel hatte ihr erklärt, eine stumpfe Klinge sei mit einem lahmen Pferd zu vergleichen. Heiße Pastete hockte sich auf die Matratze neben ihr und beobachtete sie bei der Arbeit.»Wo hast du eigentlich ein so gutes Schwert her?«fragte er. Auf ihren Blick hin hob er abwehrend die Hände.»Ich habe nicht behauptet, du hättest es gestohlen, ich wollte nur wissen, woher du es hast.«
«Mein Bruder hat es mir geschenkt«, murmelte sie.
«Ich wußte gar nicht, daß du einen Bruder hast.«
Arya hielt inne und kratzte sich unter dem Hemd. Im Stroh gab es Flöhe, allerdings würden sie ein paar mehr oder weniger auch nicht stören.»Ich habe viele Brüder.«
«Ehrlich? Sind sie größer oder kleiner als du.«
Ich sollte darüber nicht reden. Yoren hat gesagt, ich soll den Mund halten.»Größer«, log sie.»Sie haben auch Schwerter, große Langschwerter, und sie haben mir gezeigt, wie ich damit Leute umbringen kann, die mich belästigen.«
«Ich habe doch nur ein bißchen geredet, ich habe dich nicht belästigt. «Heiße Pastete trollte sich und ließ sie allein. Arya rollte sich auf der Matratze zusammen. Sie hörte das Weinen des kleinen Mädchens von der anderen Seite des großen Raums her. Wenn sie doch nur still wäre. Warum muß sie die ganze Zeit jammern?
Sie mußte eingenickt sein, obwohl sie sich nicht daran erinnerte, die Augen geschlossen zu haben. Sie träumte, ein Wolf heule, und von diesem Laut erschrak sie und wachte auf. Mit klopfendem Herzen fuhr sie hoch.»Heiße Pastete, wach auf. «Sie stand auf.»Woth, Gendry, habt ihr nicht gehört?«Sie zog sich einen Stiefel an.
Um sie herum räkelten sich Männer und Jungen und krochen von ihren Lagern.»Was ist denn los?«erkundigte sich Heiße Pastete.»Hast du etwas gehört?«wollte Gendry wissen.»Arry hat nur schlecht geträumt«, ließ jemand anderes verlauten.
«Nein, ich hab's gehört«, beharrte sie.»Einen Wolf.«
«Arry spuken Wölfe im Kopf herum«, höhnte Lommy.»Laß sie doch heulen. Gerren meinte:»Sie sind dort draußen und wir hier drinnen. «Woth stimmte dem zu.»Habe noch keinen Wolf gesehen, der einen Bergfried erstürmt hätte. «Und Heiße Pastete warf ein:»Ich habe überhaupt nichts gehört.«
«Es war ein Wolf. «schrie sie die Jungen an, während sie sich den zweiten Stiefel anzog.»Da stimmt etwas nicht. Jemand kommt. Steht auf.«
Ehe die anderen Gelegenheit fanden, sie abermals zu verspotten, gellte tatsächlich ein langgezogener Laut durch die Nacht — nur war es kein Wolf, sondern Kurtz' Jagdhorn, das Alarmsignal. Im Nu sprangen alle auf, fuhren in die Kleider, ergriffen, was sie an Waffen besaßen. Arya rannte bereits zum Tor, als das Horn zum zweiten Mal erklang. Als sie an der Scheune vorbeilief, warf sich Beißer wild in die Ketten, und Jaqen H'ghar rief ihr vom Wagen zu:»Junge! Süßer Junge! Ist er der Krieg, der rote Krieg? Junge, befrei uns. Der Mann kann kämpfen. Junge!«Sie beachtete ihn nicht und hastete weiter. Inzwischen konnte sie von der anderen Seite der Mauer Pferde und Rufe hören.
Sie stieg hinauf auf den Wehrgang. Die Zinnen waren ein wenig zu hoch oder Arya ein wenig zu klein, jedenfalls mußte sie die Fußspitze in die Zwischenräume der Steine klemmen, damit sie über die Mauer blicken konnte. Einen Augenblick lang glaubte sie, die Stadt sei voller Leuchtkäfer. Dann begriff sie, daß es Männer mit Fackeln waren, die durch die Straßen galoppierten. Sie sah ein Dach auflodern; die Flammen leckten mit heißen, orangefarbenen Zungen an der Nacht, als das Stroh Feuer fing. Ein zweites folgte, ein drittes, und bald brannte es überall lichterloh.