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Kommt heute nacht in den Götterhain, wenn Ihr nach Hause zurückkehren möchtet.

Und wenn es sich nur wieder um einen von Joffreys grausamen Scherzen handelte, wie an dem Tag, als er sie auf den Wehrgang geführt und ihr den Kopf ihres Vaters gezeigt hatte? War das vielleicht nur eine hinterhältige Falle, um ihre Untreue zu beweisen? Wenn sie in den Götterhain ging, würde dort Ser Ilyn Payne schweigend mit Ice in der Hand unter dem Herzbaum auf sie warten und mit seinen hellen Augen Ausschau halten, ob sie tatsächlich erschiene?

Kommt heute nacht in den Götterhain, wenn Ihr nach Hause zurückkehren möchtet.

Als die Tür aufging, stopfte sie den Brief hastig unter das Laken und setzte sich darauf. Es war eines ihrer Zimmermädchen, das scheue Ding mit den stumpfen braunen Haaren.»Was willst du?«fragte Sansa.

«Möchten Mylady heute abend ein Bad nehmen?«»Mach lieber ein Feuer an… mir ist kalt. «Sie zitterte tatsächlich, obwohl es ein warmer Tag gewesen war.»Wie Ihr wünscht.«

Sansa beobachtete das Mädchen mißtrauisch. Hatte sie die Nachricht gesehen? Hatte sie das Papier womöglich selbst unter das Kissen gesteckt? Das war nicht sehr wahrscheinlich; sie hielt die Magd für dumm, und niemand würde sich ausgerechnet sie als Überbringerin geheimer Botschaften aussuchen. Dennoch, Sansa kannte sie kaum. Die Königin ließ ihre Dienerinnen jede zweite Woche auswechseln, damit Sansa keine Freundschaft mit ihnen schließen konnte.

Schließlich brannte das Feuer im Kamin, und Sansa dankte dem Mädchen knapp und schickte es hinaus. Die Dienerin gehorchte eilig wie stets, aber Sansa meinte, ein verschlagenes Funkeln in ihren Augen bemerkt zu haben. Gewiß würde sie jetzt der Königin oder Varys Bericht erstatten. Alle Zimmermädchen spionierten ihr nach, dessen war sie sich sicher.

Sie warf den Brief in die Flammen und sah zu, wie sich das Pergament einrollte und schwärzte. Kommt heute nacht in den Götterhain, wenn Ihr nach Hause zurückkehren möchtet. Sie trat ans Fenster. Unten schritt ein untersetzter Ritter in mondweißer Rüstung und schwerem weißen Mantel über die Zugbrücke. Der Größe nach konnte es nur Ser Preston Greenfield sein. Die Königin ließ ihr innerhalb der Burg volle Freiheit; trotzdem würde er wissen wollen, wohin sie ging, wenn sie zu dieser späten Stunde Maegors Bergfried verließ. Was sollte sie ihm sagen? Plötzlich war sie froh, daß sie die Nachricht verbrannt hatte.

Sie löste die Schnüre ihres Kleides und kroch ins Bett, schlief jedoch nicht ein. War er noch immer da? fragte sie sich. Wie lange würde er warten? Es war grausam, ihr einen solchen Brief zu schicken und keine Einzelheiten zu verraten. Die Gedanken kreisten unablässig in ihrem Kopf.

Wenn ihr nur jemand sagen könnte, was sie tun sollte. Sie vermißte Septa Mordane und mehr noch Jeyne Poole, ihre treueste Freundin. Die Septa war geköpft worden, weil sie das Verbrechen begangen hatte, dem Hause Stark zu dienen. Sansa hatte keine Ahnung, was Jeyne zugestoßen war, die einfach verschwunden und niemals wieder erwähnt worden war. Sansa versuchte, nicht zu oft an sie zu denken, manchmal allerdings überfielen sie die Erinnerungen ungebeten, und dann war es schwer, die Tränen zurückzuhalten. Gelegentlich vermißte Sansa sogar ihre Schwester. Die war inzwischen sicher wieder in Winterfell, tanzte und nähte, spielte mit Bran und dem kleinen Rickon, und ritt vermutlich sogar hinunter in die Stadt, wenn sie Lust dazu verspürte. Sansa durfte ebenfalls reiten, aber nur auf dem Burghof, und es wurde rasch langweilig, das Pferd ständig im Kreis zu lenken.

Sie war immer noch hellwach, als sie das Geschrei draußen vernahm. Zunächst kam es aus der Ferne, wurde jedoch rasch lauter. Viele Stimmen, die durcheinander brüllten, was, konnte sie nicht verstehen. Und sie hörte auch Hufschläge, stampfende Schritte, Befehle. Sansa schlich ans Fenster und sah Männer, die mit Fackeln und Speeren über die Wehrgänge liefen. Geh zurück ins Bett, schalt sie sich, das geht dich alles nichts an, es gibt nur wieder Ärger in der Stadt. An den Brunnen wurde in letzter Zeit häufig über Unruhen gesprochen. Viele Menschen drängten nach King's Landing herein, flohen vor dem Krieg, und viele überlebten nur, indem sie andere beraubten oder töteten. Geh ins Bett.

Aber der weiße Ritter war verschwunden, die Brücke über den trockenen Burggraben war unbewacht.

Ohne nachzudenken drehte sich Sansa um und eilte zu ihrem Kleiderschrank. Oh, was tue ich da bloß? fragte sie sich, während sie sich ankleidete. Das ist doch verrückt. Sie sah die Fackeln draußen auf den äußeren Mauern. Waren Stannis und Renly schließlich doch gekommen, um Joffrey zu töten und den Thron ihres verstorbenen Bruders zu besteigen? Wenn dies der Fall war, hätten die Wachen doch die Zugbrücke hochgezogen und auf diese Weise Maegors Bergfried von den äußeren Burgteilen abgetrennt. Sansa warf sich einen schlichten grauen Mantel über die Schultern und nahm das Messer, mit dem sie gewöhnlich Fleisch beim Essen schnitt. Wenn es eine Falle sein sollte, sterbe ich lieber, bevor sie mir noch mehr weh tun, sagte sie sich. Sie verbarg die Klinge unter dem Mantel.

Eine Kolonne Bewaffneter in roten Röcken lief vorbei, als sie hinaus in die Nacht schlüpfte. Sie wartete ab, bis sie vorüber waren, dann rannte sie zur unbewachten Zugbrücke hinüber. Auf dem Hof schnallten Männer Schwertgurte um und wuchteten Sättel auf ihre Pferde. Bei den Ställen entdeckte sie Ser Preston mit drei anderen Mitgliedern der Königswache, deren weiße Umhänge hell wie der Mond leuchteten, während sie Joffrey in seine Rüstung halfen. Beim Anblick des Königs stockte ihr der Atem. Zum Glück bemerkte er sie nicht. Er schrie nach seinem Schwert und seiner Armbrust.

Der Lärm ließ nach, als sie tiefer in die Burg vorstieß, wobei sie sich nicht umzuschauen wagte, aus Furcht, Joffrey könnte sie bemerken… oder schlimmer noch, ihr folgen. Die Serpentinentreppe wand sich vor ihr und war von Streifen flackernden Lichts aus den schmalen Fenstern der umgebenden Gebäude erhellt. Oben angekommen, keuchte Sansa. Sie eilte eine im Schatten liegende Kolonnade entlang, drückte sich schließlich an eine Mauer und rang nach Atem. Plötzlich berührte etwas sie am Bein, und vor Schreck zuckte sie heftig zusammen, doch es war lediglich eine Katze, ein struppiger Kater, dem ein Ohr fehlte. Das Tier fauchte sie an und sprang davon.

Sansa erreichte den Götterhain, wo von dem Lärm nur noch ein leises Rasseln von Stahl und ferne Rufe blieben. Sie zog den Mantel enger um sich. In der Luft lag der Geruch von Erde und Laub. Lady hätte es hier gefallen, dachte sie. Ein Götterhain hatte stets etwas Wildes an sich, und sogar in diesem hier, inmitten der Burg und der Stadt, konnte man die alten Götter spüren, die mit tausend Augen auf sie herabschauten.

Die Götter ihrer Mutter zog Sansa denen ihres Vaters vor. Ihr gefielen die Statuen, die Bilder hinter Bleiglas, der Duft brennenden Weihrauchs, die Septone mit ihren Roben und Kristallen, das magische Spiel der Regenbögen über den Altären, die mit Perlmutt und Onyx und Lapislazuli eingelegt waren. Dennoch konnte sie die besondere Macht des Götterhains nicht bestreiten. Helft mir, betete sie, schickt mir einen Freund, einen wahren Ritter, der mich rettet…

Sie schlich von Baum zu Baum und fühlte die rauhe Rinde unter ihren Händen. Blattwerk strich über ihre Wangen. War sie zu spät gekommen? Er würde doch gewiß nicht so bald wieder aufbrechen, oder? War er überhaupt hier gewesen? Durfte sie einen lauten Ruf wagen? Es war so still hier…