Es war Gendry, dem das Turmhaus und die drei einfielen, die es hatten halten sollen. Auch sie waren angegriffen worden, doch der runde Turm hatte nur einen einzigen Eingang, eine
Tür im zweiten Stock, die nur über eine Leiter zu erreichen war. War diese eingezogen, konnte kein Feind hinein. Die Lannisters hatten um die Grundmauern des Turms herum Reisig aufgestapelt und es angezündet, aber Stein brannte nicht, und Lorch hatte es an der Geduld gemangelt, die drei auszuhungern. Curjack öffnete auf Gendry s Ruf hin die Tür, und Kurtz schlug vor, es sei besser, nach Norden weiterzuziehen. Erneut klammerte sich Arya an die Hoffnung, Winterfell doch noch zu erreichen.
Nun, diese Ortschaft, die da vor ihr lag, war nicht Winterfell, immerhin versprachen die Strohdächer ein wenig Wärme und Schutz, und möglicherweise würden sie sogar etwas zu essen finden. Solange es nicht Lorch ist, der sich dort aufhält. Er hat Pferde; damit kommt er schneller voran als wir.
Lange Zeit hielt sie Ausschau, um vielleicht etwas Wichtiges zu entdecken; einen Mann, ein Pferd, ein Banner, was immer ihr Gewißheit verschaffen könnte. Ein paarmal glaubte sie, eine Bewegung zu sehen, aber die Gebäude waren weit entfernt, und möglicherweise täuschte sie sich. Einmal hörte sie jedoch das Wiehern eines Pferdes.
Die Luft war voller Vögel, vor allem Krähen. Aus der Ferne waren sie nicht größer als Fliegen, die über den Strohdächern kreisten. Im Osten bildete das God's Eye eine blaue, gleißende Fläche, welche die halbe Welt einzunehmen schien. An manchen Tagen, während sie langsam am schlammigen Ufer entlangzogen (Gendry wollte alle Straßen vermeiden, und sogar Heiße Pastete und Lommy sahen das ein), lockte Arya der See sehr. Zu gern wäre sie in das stille Blau gesprungen, um sich endlich einmal wieder sauber zu fühlen, um zu schwimmen und in der Sonne zu baden. Aber sie wagte nicht, ihre Kleider abzulegen, solange die anderen dabei waren, nicht einmal zum Waschen. Am Ende eines Tages saß sie oft auf einem Felsen und ließ die Füße ins kalte Wasser hängen. Ihre verschlissenen und verrotteten Schuhe hatte sie schließlich weggeworfen. Zuerst war es schwer, barfuß zu gehen, irgendwann waren die Blasen allerdings aufgeplatzt und schließlich verheilt, und inzwischen hatten sich ihre Sohlen in Leder verwandelt. Der Schlamm war weich zwischen den Zehen, und sie genoß es, beim Gehen die Erde unter den Füßen zu spüren.
Von hier oben konnte sie ein kleines bewaldetes Inselchen im Nordosten sehen. Dreißig Meter vor dem Ufer glitten drei schwarze Schwäne gelassen über das Wasser… ihnen hatte niemand erzählt, daß der Krieg ins Land gekommen war, und die verbrannten Städte und die niedergemetzelten Menschen waren ihnen gleichgültig. Sehnsuchtsvoll beobachtete sie die Tiere. Gern wäre sie selbst ein Schwan gewesen. Aber genauso gern hätte sie einen gegessen. Zum Frühstück hatte es zerstampfte Eicheln und ein paar Käfer gegeben. Käfer schmeckten gar nicht so schlecht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Würmer waren schlimmer, aber trotzdem besser als der Schmerz im Bauch nach Tagen ohne Essen. Außerdem waren Käfer leichter zu finden, man brauchte nur einen Stein umzudrehen. Als Kind hatte Arya einmal einen Käfer gegessen, nur um Sansa zu erschrecken, und deshalb fiel es ihr nun nicht so schwer, einen weiteren zu schlucken. Wiesel hatte damit auch keine Probleme, doch Heiße Pastete hatte seinen ersten Käfer wieder hochgewürgt, und Lommy und Gendry hatten es gar nicht erst probiert. Gestern hatte Gendry einen Frosch gefangen und ihn sich mit Lommy geteilt, und vor ein paar Tagen hatte Heiße Pastete Brombeeren gefunden und den Busch leergepflückt. Im wesentlichen lebten sie jedoch von Wasser und Eicheln. Kurtz hatte ihnen gezeigt, wie man die Eicheln zwischen zwei Steinen zu einem Brei zerquetschte. Es schmeckte widerlich.
Sie wünschte nur, Kurtz, der Wilddieb, wäre nicht gestorben. Er hatte sich im Wald ausgekannt, nur leider hatte ihn im Bergfried ein Pfeil in die Schulter getroffen, während er die
Leiter einzog. Tarber hatte die Wunde mit Schlamm und Moos bedeckt, und ein oder zwei Tage hatte Kurtz geschworen, die Verletzung sei nur ein lächerlicher Kratzer, obwohl das Fleisch am Hals dunkel wurde, derweil rote Striemen zum Kinn zogen und von dort zur Brust hinunter. Eines Morgens fehlte ihm die Kraft, aufzustehen, und am nächsten war er tot.
Sie begruben ihn unter Steinen, und Cutjack hatte sein Schwert und sein Jagdhorn für sich beansprucht, Tarber hatte sich den Bogen, die Stiefel und das Messer genommen. Sie hatten alles mitgenommen, als sie aufbrachen. Zuerst glaubten Arya und die anderen, die beiden wären auf der Jagd und würden bald mit Wild zurückkehren. So warteten und warteten sie, bis Gendry sie schließlich weiterscheuchte. Vielleicht dachten Tarber und Cutjack, sie hätten ohne eine Schar Waisenjungen bessere Chancen, sich durchzuschlagen. Vermutlich stimmte das sogar, allerdings besänftigte das kaum ihren Haß auf die zwei.
Unten auf dem Boden bellte Heiße Pastete wie ein Hund. Kurtz hatte die Idee gehabt, sich mit Tierlauten untereinander zu verständigen. Das sei ein alter Wilderertrick, hatte er gesagt, nur war er leider gestorben, ehe er ihnen beibringen konnte, wie man diese Laute richtig nachahmte. Die Vogelschreie von Heiße Pastete waren fürchterlich. Sein Hund war besser, wenn auch nicht viel.
Arya hüpfte auf einen tieferen Ast und streckte die Hände aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Eine Wassertänzerin stürzt niemals. Ihre Zehen klammerten sich um den Ast, sie ging ein paar Schritte, sprang auf den nächst tieferen, kräftigeren und hangelte sich dann durch die Blätter bis zum Stamm. Die Rinde fühlte sich rauh unter ihren Fingern und Zehen an. Rasch kletterte sie hinunter, sprang die letzten zwei Meter und rollte sich bei der Landung ab.
Gendry reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine.»Du warst lange dort oben. Was hast du gesehen?«
«Ein kleines Fischerdorf am Ufer im Norden. Sechsundzwanzig Strohdächer, und eins mit Schiefer. Und einen Wagen habe ich auch entdeckt. Dort ist jemand.«
Beim Klang ihrer Stimme kroch Wiesel aus dem Gebüsch hervor. Lommy hatte sie so genannt. Er meinte, die Kleine sähe aus wie ein Wiesel, was nicht stimmte, aber sie konnten sie doch nicht mehr» weinendes Mädchen «nennen, nachdem sie zu weinen aufgehört hatte. Ihr Mund war dreckig. Hoffentlich hatte sie nicht wieder Schlamm gegessen.
«Hast du Menschen gesehen?«erkundigte sich Gendry.
«Vor allem Dächer«, gestand Arya ein,»immerhin kam aus ein paar Schornsteinen Rauch, und ein Pferd hat gewiehert. «Wiesel schlang die Arme um ihr Bein und klammerte sich fest. Das tat sie in letzter Zeit häufiger.
«Wo Menschen sind, gibt es auch etwas zu essen«, sagte Heiße Pastete, viel zu laut. Gendry versuchte ihm ständig einzuschärfen, leiser zu sein, jedoch ohne Erfolg.»Vielleicht teilen sie mit uns.«
«Vielleicht bringen sie uns auch um«, erwiderte Gendry.
«Nicht, wenn wir uns ergeben«, meinte Heiße Pastete voller Hoffnung.
«Jetzt hörst du dich schon an wie Lommy. «Lommy Grünhand saß zwischen zwei dicken Wurzeln einer Eiche. Beim Kampf am Bergfried hatte ihn ein Speer in die Wade getroffen. Am Ende des nächsten Tages mußte er, von Gendry gestützt, auf einem Bein humpeln, und jetzt konnte er nicht einmal mehr das. Sie hatten Äste von Bäumen gehackt und eine Bahre für ihn gebaut, kamen aber auf diese Weise nur langsam voran, außerdem war es harte Arbeit für sie, und Lommy jammerte bei jeder kleinen Erschütterung.