Angst schneidet tiefer als Schwerter. Tote Männer konnten ihr nichts tun, aber wer immer sie umgebracht hatte, war dazu durchaus in der Lage. Ein Stück hinter dem Galgen lehnten zwei Männer in Kettenhemden auf ihren Speeren vor einem langen niedrigen Gebäude am Wasser, dem mit dem Schieferdach. Zwei hohe Stangen waren davor in den Boden gebohrt worden, und von jeder hing ein Banner. Eins war rot, das andere heller, weiß oder gelb vielleicht, aber beide hingen schlaff herunter, und in der Dämmerung war sich Arya nicht einmal sicher, ob es sich um das tiefe Rot der Lannisters handelte. Ich brauche den Löwen nicht zu sehen; bei all den Leichen, wer sollte das sonst sein, außer den Lannisters? Dann hörte sie einen Ruf.
Die beiden Speerträger drehten sich um, und ein dritter Mann kam in Sicht, der einen Gefangenen vor sich herschob. Es war inzwischen zu dunkel, um die Gesichter zu erkennen, doch trug der Gefangene einen glänzenden Stahlhelm, und als Arya die Hörner sah, wußte sie, daß es Gendry war. Du blöder, blöder, BLÖDER Kerl! dachte sie. Wenn er hier gewesen wäre, hätte sie ihn gleich noch einmal getreten.
Zwar sprachen die Wachen laut miteinander, trotzdem waren sie zu weit entfernt, und so konnte Arya nichts verstehen, vor allem auch, weil die Krähen laut krächzten und flatterten. Einer der Speerträger riß Gendry den Helm vom Kopf und stellte ihm eine Frage. Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen; er schlug mit dem Speerschaft zu und stieß Aryas Freund zu Boden. Der Mann, der ihn gebracht hatte, versetzte ihm einen Tritt, während der dritte den Helm aufprobierte. Schließlich zerrten sie Gendry auf die Beine und marschierten mit ihm zum Lagerhaus hinüber. Als sie die schwere Holztür öffneten, kam ein kleiner Junge herausgeschossen, den eine der Wachen am Arm packte und wieder ins Innere schleuderte. Arya hörte ein Schluchzen und dann einen lauten Schmerzensschrei, bei dem sie sich vor Schreck auf die Lippen biß.
Die Wachen stießen Gendry hinein und verriegelten die Tür hinter ihm. In diesem Augenblick wehte ein Wind vom See herüber, und die Banner blähten sich. Das eine trug tatsächlich den goldenen Löwen, wie sie befürchtet hatte. Auf dem anderen zeichneten sich drei schlanke schwarze Formen in buttergelbem Feld ab. Hunde, dachte sie. Irgendwo hatte sie die schon einmal gesehen, aber wo?
Das war im Augenblick nicht wichtig. Wichtig war nur, daß sie Gendry geschnappt hatten. Mochte er noch so stur und blöd sein, sie mußte ihn dort herausholen. Ob sie wohl wußten, daß die Königin hinter ihm her war?
Der eine Speerträger nahm seinen Helm ab und setzte statt dessen Gendrys auf. Bei diesem Anblick stieg Wut in ihr auf, nur leider konnte sie rein gar nichts dagegen tun. Sie meinte, weitere Schreie aus dem fensterlosen Lagerhaus zu hören, die durch das Mauerwerk gedämpft wurden, doch war sie sich dessen nicht sicher.
Also blieb sie lange genug, um den Wachwechsel zu beobachten, und darüber hinaus einiges mehr. Männer kamen und gingen. Sie führten Pferde hinunter zum Bach und tränkten sie. Eine Jagdgesellschaft kehrte aus dem Wald zurück und brachte einen Hirsch mit, der an einer Stange hing. Sie sah zu, wie sie das Tier säuberten und ausweideten und auf der anderen Seite des Bachs ein Feuer anzündeten. Der Duft des bratenden Fleisches vermischte sich eigentümlich mit dem Verwesungsgestank. Ihr leerer Bauch rumorte, und sie fürchtete schon, sie müsse sich übergeben. Die Aussicht auf Essen lockte weitere Männer an, die alle Kettenhemden oder Harnische aus Leder trugen. Nachdem der Hirsch zubereitet war, wurden die besten Stücke in eines der Häuser getragen. Sie überlegte, ob sie im Schutze der Dunkelheit vielleicht zu Gendry schleichen und ihn befreien könnte, aber die Wachen steckten am Feuer Fackeln an. Ein Knappe brachte den beiden, die vor dem Lagerhaus standen, Fleisch und Brot; später gesellten sich zwei andere Kerle zu ihnen, und ein Weinschlauch wurde von Hand zu Hand gereicht. Als er geleert war, verschwanden die beiden Männer, die Wachen jedoch blieben auf ihrem Posten und lehnten sich auf ihre Speere.
Mit steifen Armen und Beinen kroch Arya schließlich unter den Brombeeren hervor und schlüpfte in die Dunkelheit des
Waldes. Heute nacht konnte man kaum die Hand vor Augen sehen, weil nur eine schmale Mondsichel am Himmel stand, die zudem immer wieder von Wolken verdeckt wurde. Leise wie ein Schatten, schärfte sie sich ein, während sie zwischen den Bäumen hindurchging. In dieser Finsternis wagte sie nicht zu laufen, aus Angst, über eine Wurzel zu stolpern oder sich zu verirren. Zur Linken leckte das God's Eye still und sanft an seinen Ufern. Auf der anderen Seite strich der Wind seufzend durch die Zweige und ließ das Laub rascheln. Aus der Ferne hörte sie das Geheul von Wölfen. Lommy und Heiße Pastete machten sich beinahe in die Hose, als sie aus dem Wald hinter ihnen trat.»Still!«forderte sie die beiden auf und legte den Arm um Wiesel, die auf sie zugelaufen kam.
Heiße Pastete starrte sie mit großen Augen an.»Wir dachten, ihr hättet uns im Stich gelassen. «Er hielt das Kurzschwert in der Hand, das Yoren dem Goldrock abgenommen hatte.»Ich hatte schon Angst, du wärst ein Wolf.«
«Wo ist der Bulle?«fragte Lommy.
«Sie haben ihn erwischt«, flüsterte Arya.»Wir müssen ihn befreien. Heiße Pastete, du mußt mir helfen. Nachdem wir uns rangeschlichen haben, töten wir die Wachen, und dann mache ich die Tür auf.«
Heiße Pastete und Lommy wechselten einen Blick.»Wie viele sind es?«
«Ich konnte sie nicht zählen«, gestand Arya ein.»Mindestens zwanzig, aber nur zwei vor der Tür.«
Heiße Pastete sah aus, als würde er im nächsten Moment zu heulen anfangen.»Gegen zwanzig kommen wir nicht an.«
«Du brauchst nur einen zu erledigen. Ich übernehme den anderen, und dann holen wir Gendry raus und geben Fersengeld.«
«Wir sollten uns ergeben«, meinte Lommy.»Einfach zu ihnen gehen und uns ergeben.«
Stur schüttelte Arya den Kopf.
«Dann laß ihn doch einfach da«, flehte Lommy.»Von uns anderen wissen sie nichts. Wenn wir uns verstecken, ziehen sie ab, ganz bestimmt. Ist doch nicht unsere Schuld, daß sie Gendry geschnappt haben.«
«Du bist dumm, Lommy«, hielt ihm Arya wütend entgegen.»Du wirst sterben, wenn wir Gendry nicht befreien. Wer soll dich denn tragen?«
«Heiße Pastete und du.«
«Die ganze Zeit, und ohne Hilfe? Das schaffen wir nie. Gendry ist der kräftigste von uns. Außerdem ist es mir gleichgültig, was du sagst, ich werde zurückgehen. «Sie blickte Heiße Pastete an.»Kommst du mit?«
Heiße Pastete sah erst Lommy, dann Arya und wieder Lommy an.»Ich komme mit«, sagte er widerwillig.
«Lommy, du behältst Wiesel hier.«
Er packte das kleine Mädchen an der Hand und zog es zu sich heran.»Und wenn die Wölfe kommen?«
«Ergib dich«, schlug Arya vor.
Der Rückweg zum Dorf schien Stunden zu dauern. Heiße Pastete stolperte im Dunkeln ununterbrochen und kam vom Weg ab, so daß Arya ständig auf ihn warten mußte. Am Ende nahm sie seine Hand und führte ihn durch den Wald.»Sei einfach nur leise und folge mir. «Als sie den ersten Widerschein der Feuer in der Siedlung am Himmel bemerkten, sagte sie:»Auf der anderen Seite der Hecke hängen tote Männer am Galgen, aber vor denen brauchst du dich nicht zu fürchten. Vergiß nicht: Angst schneidet tiefer als Schwerter. Wir müssen ganz leise und vorsichtig sein. «Heiße Pastete nickte.