Ich habe ihn verloren, dachte Cressen verzweifelt. Wenn er sich nur auf irgendeine Weise unbemerkt Melisandre nähern könnte… er brauchte lediglich einen kurzen Augenblick bei ihrem Kelch.»Ihr seid der rechtmäßige Erbe Eures Bruders Robert, der wahre Lord der Sieben Königslande und König der Andalen, der Rhoynar und der Ersten Menschen«, sagte er,»und dennoch dürft Ihr ohne Verbündete nicht hoffen zu obsiegen.«
«Er hat einen Verbündeten«, hielt Lady Selyse dagegen.»R'hllor, den Herrn des Lichts, das Herz des Feuers, den Gott der Flamme und des Schattens.«
«Götter geben allenfalls unsichere Verbündete ab«, beharrte der alte Mann,»und dieser hat hier keine Macht.«
«Glaubt Ihr?«Der Rubin an Melisandres Hals glühte im Licht auf, als sie den Kopf wandte, und einen Moment lang schien er so hell zu leuchten wie der Komet.»Wenn Ihr solche Torheiten sprecht, solltet Ihr Eure Krone wieder aufsetzen.«
«Ja«, stimmte Lady Selyse zu,»Flickenfratz' Helm. Er steht Euch gut, alter Mann. Setzt ihn wieder auf, ich befehle es.«
«Unter dem Meer trägt niemand Hüte«, sagte Flickenfratz,»Ja, ja, ja, ha, ha, ha.«
Lord Stannis' Augen lagen im Schatten seiner schweren Brauen, er hatte die Lippen fest aufeinandergepreßt, und sein Unterkiefer mahlte stumm. Er knirschte stets mit den Zähnen, wenn sich der Zorn seiner bemächtigt hatte.»Narr«, knurrte er schließlich,»meine Gemahlin hat es befohlen. Gib Cressen deinen Helm.«
Nein, dachte der alte Maester, das bist nicht du, nein, wahrlich nicht, du warst stets gerecht, stets hart, doch niemals grausam, und nie hast du dich auf Spott verstanden, genausowenig wie aufs Lachen.
Flickenfratz tanzte heran, seine Kuhglöckchen klingelten, klingeling, ding ding, klingeling, ding dong. Der Maester saß schweigend da, während der Narr ihm den gehörnten Eimer aufsetzte. Cressen neigte den Kopf ob des Gewichts. Die Glöckchen läuteten.»Vielleicht sollte er seine Ratschläge von nun an singend vortragen«, höhnte Lady Selyse.
«Ihr geht zu weit, Weib«, widersprach Lord Stannis.»Er ist ein alter Mann, und er hat mir gute Dienste geleistet.«
Ich werde Euch bis zum letzten Atemzug dienen, mein geliebter Lord, mein armer, einsamer Sohn, dachte Cressen, denn plötzlich sah er seine Chance. Ser Davos' Kelch stand vor ihm und war halb mit rotem Wein gefüllt. Cressen suchte einen Kristall in seinem Ärmel, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und griff nach dem Kelch. Sicher und geschickt, ich darf es nicht verderben, betete er, und die Götter erbarmten sich seiner. Einen Herzschlag später war seine Hand leer. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr so ruhig gehalten, so fließend bewegen können. Davos hatte es bemerkt, aber sonst niemand, dessen war er gewiß. Mit dem Becher in der Hand erhob er sich.»Womöglich war ich in der Tat ein Narr. Lady Melisandre, würdet Ihr einen Kelch Wein mit mir teilen? Einen
Kelch zu Ehren Eures Gottes, Eures Herrn des Lichts? Einen Becher, um seine Macht zu preisen?«
Die rote Frau musterte ihn.»Wenn Ihr es wünscht.«
Er fühlte, daß alle ihn beobachteten. Als er aufstand, packte Davos seinen Ärmel mit den Fingern, die Lord Stannis verstümmelt hatte.»Was tut Ihr?«flüsterte er.
«Etwas, das ich tun muß«, antwortete Maester Cressen,»zum Wohle des Reichs und der Seele meines Lords. «Er schüttelte Davos' Hand ab und verschüttete dabei einen Tropfen Wein auf die Binsen.
Sie trat ihm unterhalb der hohen Tafel entgegen. Jeder hatte die Augen auf die beiden gerichtet. Aber Cressen sah nur sie. Rote Seide, rote Augen, und der rote Rubin an ihrem Hals, rote Lippen, die sich zu einem schwachen Lächeln verzogen, während sie die Hand auf die seine legte und den Kelch umfaßte. Ihre Haut fühlte sich heiß und fiebrig an.»Es ist noch nicht zu spät, den Wein zu verschütten, Maester.«
«Nein«, flüsterte er heiser.»Nein.«
«Wie Ihr wünscht. «Melisandre von Asshai nahm den Kelch und trank einen tiefen Schluck. Sie ließ nur einen halben Schluck zurück, den sie nun ihm anbot.»Und jetzt Ihr.«
Seine Hände zitterten, aber er wappnete sich. Ein Maester der Citadel durfte keine Angst haben. Der Wein schmeckte sauer auf der Zunge. Er ließ den leeren Kelch aus den Händen zu Boden fallen, wo er zerbrach.»Er hat doch Macht hier, Mylord«, sagte die Frau.»Und das Feuer reinigt. «An ihrem Hals schimmerte der Rubin rötlich.
Cressen wollte etwas erwidern, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Sein Husten wurde ein erschreckend dünnes Rasseln, als er verzweifelt nach Luft schnappte. Eiserne Finger schlossen sich um seinen Hals. Er sank auf die Knie, schüttelte den Kopf, wies sie zurück, ihre Macht, ihre Magie, ihren Gott. Die Kuhglöckchen klingelten in dem Geweih auf
seinem Kopf und sangen Narr! Narr! Narr! derweil die rote Frau mitleidig auf ihn herabblickte und die Flammen der Kerzen in ihren roten, roten Augen tanzten.
Arya
Auf Winterfell war sie» Arya Pferdegesicht «genannt worden, und etwas Schlimmeres hatte sie sich kaum vorstellen können, aber da hatte dieser Waisenjunge Lommy Grünhand sie auch noch nicht» Klumpkopf «getauft.
Tatsächlich fühlte sich ihr Kopf klumpig an. Als Yoren sie in die Gasse gezerrt hatte, glaubte sie, der alte Mann wolle sie umbringen, hingegen hatte er sie lediglich festgehalten und ihr die verfilzte Mähne mit dem Dolch abgesäbelt. Sie erinnerte sich an das verdreckte braune Haar, das der Wind über die Pflastersteine auf die Septe zutrieb, auf deren Stufen ihr Vater den Tod gefunden hatte.»Ich bringe Männer und Jungen aus der Stadt«, knurrte Yoren, während sein scharfer Stahl über ihren Schädel schabte.»Und jetzt halt still, Junge!«Nachdem er fertig war, hatte sie nur noch Büschel und Stoppeln auf dem Kopf.
Später erklärte er ihr, von nun an bis nach Winterfell sei sie Arry, der Waisenjunge.»Am Tor sollte es nicht weiter schwierig sein, unterwegs auf der Straße sieht die Sache allerdings anders aus. Vor dir liegt eine lange Reise in schlechter Gesellschaft. Diesmal habe ich dreißig Männer und Knaben, die für die Mauer bestimmt sind, und denk bloß nicht, die wären nur annähernd so nett wie dein Bastardbruder. «Er schüttelte sie.»Lord Eddard hat mir erlaubt, die Kerker zu durchforsten, und auf Lords bin ich dort gewiß nicht gestoßen. Die Hälfte dieses Haufens würde dich so rasch an die Königin verraten, wie Spucke im Feuer verdampft, für eine Begnadigung und vielleicht ein paar Silberstücke. Und die andere Hälfte würde das gleiche tun, sich allerdings vorher an dir vergehen. Deshalb mußt du dich stets abseits halten, und Wasser wirst du nur allein im Wald lassen. Das ist das
Schwierigste, das Pissen, darum trink nicht zu viel.«
Aus King's Landing herauszukommen, war in der Tat so leicht, wie er behauptet hatte. Die Wachen der Lannisters am Tor überprüften einen jeden, aber Yoren rief einen der Männer beim Namen an, und der winkte die Wagen durch. Niemand würdigte Arya auch nur eines Blicks. Man suchte nach einem hochgeborenen Mädchen, der Tochter der Hand des Königs, nicht nach einem mageren Jungen mit kahlgeschorenem Schädel. Arya drehte sich nicht ein einziges Mal um. Sie wünschte sich bloß, der Blackwater Rush möge anschwellen und die ganze Stadt fortschwemmen, den Red Keep und die Große Septe und alles und jeden dazu, insbesondere Prinz Joffrey und seine Mutter. Gewiß, das würde nicht geschehen, und außerdem war auch Sansa noch in der Stadt und könnte ebenfalls davongespült werden. Als ihr dies einfiel, wünschte sie sich statt dessen, Winterfell zu erreichen.