«Das weiß nur Gott. Vermutlich seit seiner Geburt.»
«Von Wölfen gesäugt», stieß Hero aus. «Nennt Ihr ihn Romulus?»
«Romulus? Wir nennen ihn Wayland, weil dieser Name in ein Holzkreuz geschnitzt war, das er um den Hals trug. Ein dänischer Name, aber englisch geschrieben. Er hatte einen Hund bei sich. Ein schauriges Vieh, so groß wie ein Bullenkalb. Er hat ihn immer noch. Ein erstklassiger Jagdhund. Und dieses Biest ist genauso stumm wie er.»
Drogo wandte sich an Hero. «Weil er ihm die Stimmbänder durchgeschnitten hat, damit er ihn nicht verraten konnte, wenn er unsere Rehe gewildert hat. Wenn ich ihn erwischt hätte, wäre er noch viel mehr losgeworden als seine Zunge.»
«Und warum hat Walter Gnade vor Recht ergehen lassen?», fragte Hero an Olbec gewandt.
«Ah», sagte Olbec, der es offensichtlich genoss, diese Geschichte zu erzählen. «Walter meinte, das Ganze wäre wie ein Bild aus einem Märchen gewesen. Als er den Hunden nachritt, hatte er erwartet, dass sie einen Wolf gestellt hätten. Doch stattdessen saßen sie im Kreis um den Jungen. Er hatte sie verzaubert.»
«Und seine Bestie hatte dem Rudelführer die Kehle herausgebissen. Man hätte sie der Meute zum Fraß vorwerfen sollen.» Drogos Kopf fuhr herum. «Seht Ihr? Ganz gleich, wie lange man einen Wolf füttert, er will immer zurück in den Wald. Bei Gott, sieh mich noch einmal so an, und ich lasse dich auspeitschen.»
Wayland senkte den Blick. Sein Herz raste.
«Schau mich an», sagte Hero. «Wayland, schau mich an.»
«Tu, was er verlangt», befahl Olbec.
Langsam hob Wayland den Kopf.
Hero runzelte die Stirn. «Er versteht, was wir sagen.»
Olbec rülpste. «Es gäbe keinen Grund, ihn hier durchzufüttern, wenn er nicht nur stumm, sondern auch noch taub wäre.»
«Ja, aber wenn er einmal gesprochen hat, wird er das wohl auf Englisch oder Dänisch getan haben. Trotzdem versteht er Französisch, und das muss er in Eurem Haus gelernt haben.»
«Wo denn sonst?»
«Was ich sagen will, ist, dass er die Fähigkeit zum Erlernen einer Sprache besitzt, obwohl er nicht sprechen kann.»
«Wen kümmert das?», fuhr Margaret dazwischen. «Sagt ihm, was er zu tun hat.»
Olbec streckte seinen Becher zum Nachfüllen vor. «Hör genau zu, Wayland. Sir Walter, dein Herr, wird von Barbaren in einem fremden Land gefangengehalten. Du musst ihm seine Freundlichkeit vergelten, indem du dabei hilfst, seine Freilassung zu erreichen. Sein Kerkermeister verlangt vier Falken für seine Freiheit. Diese Falken sind größer, heller und schöner als jeder, den du im Leben gesehen hast. Sie leben weit im Norden in einem Land aus Eis und Feuer, und ihre Eigenschaften haben sich dieser Umgebung angepasst. Jedes Jahr ziehen einige dieser Prachtexemplare herunter nach Norwegen. Und in diesem Sommer wirst du an einer Expedition dorthin teilnehmen, die besten Tiere auswählen, und dich während ihrer Reise Richtung Süden um sie kümmern.»
«Du bist dafür verantwortlich, dass sie überleben», fügte Margaret hinzu. «Wenn sie sterben, ist das Leben meines Sohnes verwirkt, und du wirst dafür bezahlen.»
«Jag dem Jungen keine Angst ein», sagte Olbec und tätschelte Margarets Arm. Dann winkte er Wayland zu sich heran. «Stelle dir Falken vor, die so edel sind, dass nur Könige und Kaiser ein Anrecht auf sie haben. Weiß sind sie und so groß wie Adler. Du wirst weiter reisen als die meisten Ritter in ihrem ganzen Leben. Auf dem Rückweg könntest du sogar nach Jerusalem pilgern.» Olbecs Augen schimmerten. «Bei Gott, ich wünschte, ich könnte mitkommen.»
Der größte Teil dieser Worte zog an Wayland vorüber. Er versuchte sich einen weißen Falken von der Größe eines Adlers vorzustellen. Es entstand nur das Bild eines Schwanes mit gebogenem Schnabel und Flügeln, wie die Engel sie besaßen, die ihm seine Mutter beschrieben hatte.
Drogo klatschte höhnisch Beifall. «Was für eine exzellente Wahclass="underline" Ein törichter Falkner für ein törichtes Vorhaben. Jetzt brauchen wir nur noch die passenden Begleiter. O ja, und einen Anführer. Ich weiß, wer der Richtige ist», sagte er und deutete auf die Gestalt im Schatten, «warum schicken wir nicht Richard los?»
«Ich würde gehen. Ich würde alles tun, um von hier wegzukommen.»
«Wir beauftragen einen Mittelsmann», sagte Margaret. «Einen verwegenen Händler mit Erfahrungen im Norden.»
«Über den verlierst du die Kontrolle, sobald er die Segel setzt. Und sehr wahrscheinlich siehst du ihn und dein Geld nie wieder.»
«Drogo hat recht.»
Wayland brauchte einen Moment um festzustellen, dass der Franke gesprochen hatte.
Vallon stand auf. «Wenn der Atem, den Ihr fürs Reden verbraucht, Wind wäre, hättet ihr jetzt schon eine ganze Flotte nach Norwegen geblasen. Aber kein Schiff läuft ohne Kapitän aus. Nach was für einem Mann sucht Ihr? Es müsste einer sein, dem Ihr durch und durch vertrauen könnt. Ein Mann, der tapfer genug ist, sich durch den bekannten Fährnisse der Reise zu trotzen, und findig genug, um die unvorhergesehenen Gefahren zu umschiffen. Es müsste ein Mann sein, der sich seinen eigenen Weg bahnt, wenn die bekannten Straßen enden. Ihr könnt einen Mann finden, der eine dieser Fähigkeiten hat. Aber keinen, der sie alle besitzt.»
Wayland spürte einen Luftzug im Raum. Drogo legte erstaunt den Kopf zur Seite.
«Einen Moment lang dachte ich, du willst vorschlagen, diese Herausforderung selbst anzunehmen.»
«Gott behüte. Dazu fehlen mir sowohl die Fähigkeiten als auch der Anreiz.»
Margaret schlug auf die Armlehne ihres Stuhles. «Er ist ein Fremder. Sein Wort zählt nicht.»
Doch Vallons Einwurf hatte die Stimmung verändert. Olbec scharrte mit seinem Stock über den Boden. «Ich würde mein ganzes Vermögen einsetzen, wenn sicher wäre, dass Walter dafür freikommt, aber mir scheint, als würden wir damit nur das eine verlieren, ohne das andere zu bekommen. Nein, Mylady, ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich schicke einen Unterhändler nach Anatolien, der meine Lage unumwunden darstellt und ein Lösegeld anbietet, das unseren Möglichkeiten entspricht. Was meint Ihr, Vallon? Ihr kennt den Emir; Ihr habt gesagt, er ist Walter gewogen. Er lässt doch bestimmt mit sich reden.»
«Er ist ein vernünftiger Mann. Ich bin sicher, dass er Euer Angebot sorgfältig prüfen wird.»
Margaret sprang auf. Ihr Blick zuckte im Raum umher. «Nachdem keiner hier etwas tun will, werde ich meine eigenen Vorkehrungen treffen.» Damit raffte sie ihre Röcke und eilte hinaus.
Drogo nahm Olbecs Hand. «Gut gesprochen, Vater. Schon viel zu oft haben die Leidenschaften Eurer Mylady Euer Urteil getrübt.»
Olbec sah ihn mit eisigem Blick an. «Aber nicht so sehr, dass ich deine Absichten nicht erraten könnte.»
Da teilten sich die Vorhänge, und ein Soldat hastete herein.
«Was ist?», fragte Drogo.
«Guilbert ist zum Pissen hinausgegangen. Hat im Schnee den Hund übersehen. Schon liegt er auf dem Rücken und hat dieses Höllenvieh an der Kehle.»
Drogo wandte sich zu Wayland um. «Ich habe dich gewarnt.»
Wayland steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Klauen hämmerten über den Boden, und einen Moment später sprang der Hund zwischen den Vorhängen hindurch wie eine Erscheinung aus Mythen oder Albträumen, die Augen schwefelgelb, der eisenharte Nacken überzuckert von Frost. Als das Tier Drogos drohende Haltung wahrnahm, zogen sich seine Lefzen in schwarzen Falten zurück. Wayland zischte. Darauf trabte der Hund augenblicklich zu ihm, legte sich zu seinen Füßen auf den Boden und begann sich die Pfoten zu lecken.
Olbec hielt erneut seinen Becher zum Nachfüllen hoch. «Ich hab’s doch gesagt, oder? Der Junge kann Tiere verzaubern.»
Als Wayland aus dem Palas kam, erwartete ihn Raul. «Werden sie die Expedition losschicken?», fragte er und trabte neben Wayland her. «Bist du dabei? Kann ich mit?»
Wayland schickte ihn mit einer Handbewegung fort. Er musste über zu vieles nachdenken. Als Raul nicht von seiner Seite wich, umkreiste ihn der Hund mit drohend gefletschten Zähnen. Wayland betrat seine Hütte, Raul blieb hinter ihm an der Tür. «Ich dachte, wir wären Freunde.»