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Wayland band den Hühnerhabicht an die Sitzstange und streckte sich auf seinem Lager aus. Er betrachtete den Vogel in dem trüben Licht. Den größten Teil der Taube hatte er gefressen, und sein Kropf stand vor. Er streifte sich den Schnabel an der Sitzstange ab, hob einen Fuß, streckte die mittlere Klaue aus und kratzte sich leicht an der Kehle. Die Bewegung brachte die Schelle an seinen Schwanzfedern zum Klingen. Er drehte den Kopf von rechts nach links, um das Futter in seinem Kropf hinunterzubefördern. Sein Gefieder entspannte sich, und er zog einen Klauenfuß unter die flaumige Federschürze. Er schlief. Am Morgen würde Wayland an jedem Augenlid einen der Nahtstiche öffnen können. In einer Woche würde der Habicht draußen im Tageslicht fressen. Und in drei Wochen würde er ohne Fessel fliegen. Wayland hatte gewonnen.

Seltsam, dachte er, wie schnell doch Hunger und Erschöpfung die Angst und den Hass besiegten. Er selbst war weder gefesselt, noch waren seine Augen zugenäht, er musste nicht hungern und konnte nach Belieben kommen und gehen. Weder Not noch Zuneigung hielten ihn in der Burg, doch an jedem Abend brachte ihn eine eigentümliche Schwäche dazu, seine Schritte wieder zu den Menschen zu lenken, die er verabscheute. Er betastete das Kreuz, das um seinen Hals hing. Im Frühling würde er entkommen, das schwor er sich. Er würde zur gleichen Zeit wie die beiden Fremden gehen, und er würde seinen eigenen Weg einschlagen. Er blies die Lampe aus. Dann drehte er sich auf die Seite und zwirbelte mit den Fingern die Nackenfalten des Hundes, ohne zu wissen, dass er das Gleiche gern mit dem Haar seiner Mutter getan hatte.

Der Hund war seine einzige greifbare Verbindung zur Vergangenheit, einer Sphäre, die er am liebsten aus seinen Gedanken verbannte. Doch manchmal brach sie in seine Träume ein, und er erwachte in Angstschweiß gebadet. Und manchmal, so wie in diesem Moment, stieg sie vor ihm auf wie ein Bild aus einem dunklen Teich.

Seine Mutter hatte ihn und seine Schwester zum Pilzesammeln in den Wald geschickt. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, seine Schwester zehn, und der Hund nur ein ungelenker, tapsiger Riesenwelpe. Drei Jahre waren seit König Harolds Niederlage vergangen, doch Wayland hatte seine ersten Normannen trotzdem erst einen Monat zuvor gesehen. Aus sicherer Entfernung hatte er die Soldaten in ihren Ringpanzerhemden beobachtet, die den Bau ihrer Burg am Tyne überwachten.

Der Bauernhof, auf dem er lebte, lag zehn Meilen stromaufwärts, ein paar Morgen freies Gelände in einem Restbestand Urwald, der von einer tiefen Schlucht durchschnitten wurde. Sie waren zu siebt in seiner Familie. Seine Mutter war Engländerin, sein Vater ein dänischer Freisasse, der Sohn eines Wikingers, der als Mitglied der Leibwache des großen Knut nach England gesegelt war. Waylands Großvater lebte noch. Er war ein an sein Lager gefesselter Riese, der die nordischen Götter anrief und einen Thorshammer als Amulett um den Hals trug. Wayland hatte einen älteren Bruder und eine ältere Schwester, Thorkell und Hilda. Seine kleine Schwester hieß Edith. Weil seine Mutter darauf bestanden hatte, waren alle Kinder getauft worden, die Mädchen hatten englische Namen bekommen, die Jungen dänische.

Es war ein guter Pilzherbst. Während Wayland die Pilze einsammelte, konnte er die gleichmäßigen Axtschläge seines Vaters hören, ein Geräusch, das ihm so vertraut war wie sein eigener Herzschlag. Als der Korb voll war, wollte Edith nach einem Bären suchen. Wayland wusste, dass es in dem Wald keine Bären mehr gab. Sein eigener Großvater hatte den letzten getötet und zum Beweis einen Zahn des Tiers behalten. Wayland war nicht sicher, ob diese Geschichte stimmte, aber er hörte sie gern und bat den alten Mann oft, sie noch einmal zu erzählen. Sein Großvater erzählte noch ganz andere Geschichten, wenn die Mutter nicht in der Nähe war – es waren aufregende, heidnische Berichte über tückische Götter und Ungeheuer und die große Schlacht, die am Ende aller Zeiten stattfinden würde.

Er entdeckte frische Hirschlosung und begann den Spuren flussaufwärts zu folgen. Der Welpe sprang ihm voraus. Sie konnten hören, wie Wasser durch die Schlucht rauschte. Der Welpe setzte sich, neigte den Kopf zur Seite und lauschte so angestrengt, dass Edith lachen musste. Das Geräusch der Axthiebe war verstummt. Wayland glaubte, einen Schrei gehört zu haben. Er wartete auf einen weiteren Schrei, doch es kam keiner. Der Hund begann zu winseln.

Wayland setzte seine Schwester unter einen Baum und befahl ihr, nicht wegzugehen, da sie sonst von den Wölfen gefressen würde.

«Ich habe keine Angst vor den Wölfen. Sie kommen nur im Winter über den Fluss.»

«Dann eben Trolle. Die Trolle wohnen im Topf.»

Der Topf war der tiefste See in der Schlucht, ein Kessel mit schwarzem Wasser, der von den Sturzbächen der Felsüberhänge in Unruhe versetzt wurde und über den sich tief die Bäume neigten, deren Wurzeln sich in die Erde krallten wie verkrümmte Finger. Edith richtete ihren Blick durch das moosgrüne Dämmerlicht auf den See. Sie fuhr über das Kreuz an ihrem Hals. «Kann der Hund bei mir bleiben?»

«Du weißt doch, dass er mir nicht von der Seite weicht. Ich sage dir was. Während ich weg bin, kannst du dir einen Namen für ihn ausdenken.»

«Ich habe schon einen ausgesucht. Er heißt …»

«Sag’s mir, wenn ich zurück bin», unterbrach Wayland sie und begann zu rennen.

Der Welpe hielt es für ein Spiel, hetzte vor ihm her und duckte sich dann, um in einem Scheinangriff wieder aufzuspringen. Wayland überlegte, ob er sich töricht verhielt. Seine Mutter würde ihn ausschelten, weil er Edith kurz vorm Dunkelwerden im Wald allein gelassen hatte.

Als er näher an die Lichtung kam, hörte er Stimmen und das Klirren von Rüstungen. Er warf sich auf den Boden, packte den Hund am Nacken und robbte durchs Unterholz, bis er die Baumgrenze erreicht hatte.

Das Geschehen war zu grauenvoll, um es mit einem Blick in sich aufzunehmen. Zwei Soldaten hielten Hilda und seine Mutter vor dem Haus fest. Zwei andere hatten seinen Vater mit dem Gesicht nach unten über den Hackklotz gelegt. Thorkell lag rücklings auf der Erde, sein Gesicht eine blutige Maske. Dann sah Wayland den Reiter am anderen Ende der Lichtung. Er gab seinem Pferd die Sporen und hackte Waylands Vater im Galopp einen Arm halb ab. Mit einem Siegesschrei galoppierte er an das andere Ende der Lichtung, ließ sein Pferd umdrehen und ritt, das Schwert erhoben, wieder zurück. Dieses Mal sah Wayland den Kopf seines Vaters vom Hackklotz rollen. Blut spritzte aus dem Hals.

Seine Mutter und seine Schwester schrien. Sie schrien immer noch, als einige Männer sie ins Haus zerrten. Dann klangen ihre Schreie erstickt und verstummten schließlich ganz. Eine Weile später kam der Mann, der seinen Vater getötet hatte, mit blutbespritztem Gesicht aus dem Haus. Er nahm einen Wasserkübel und leerte ihn sich über den Kopf aus. Als er auf sein Pferd stieg, schwankte er im Sattel wie ein Betrunkener. Einer nach dem anderen kamen die Männer aus dem Haus und knöpften sich dabei die Hosen zu. Wayland betete, dass auch seine Mutter und seine Schwester herauskommen würden. Bald darauf drang Rauch aus der Haustür. Die Mörder aber zogen immer noch nicht ab. Flammen leckten am Strohdach. Das Feuer loderte auf, und die Normannen lachten und hielten ihre Hände in Richtung des Hauses, wie um sich zu wärmen. Sogar von der Stelle aus, an der Wayland lag, konnte er in sengenden Windstößen die Hitze spüren. Dann ritten die Normannen endlich weg. Einer von ihnen hatte einen toten Hirsch über sein Pferd gelegt. Ein anderer die Hühner an seinen Sattel gebunden. Die übrigen trieben zwei Kühe, ein Pferd und einen Ochsen vor sich her.

Wayland rannte auf die lodernden Flammen zu. Die Hitze ließ sein Haar knistern und sein Gesicht prickeln, bevor sie ihn zurücktrieb. Schreiend stand er da, als das Dach einbrach und ein Feuerball zum Himmel aufstieg. Dann stürzten die Außenwände ein, und Wayland sank auf den Boden, betäubt von allem, was er gesehen hatte.