Irgendwann wurde ihm bewusst, dass der Hund mit dem Kopf gegen seine Beine stieß. Waylands Gesicht und seine Hände waren verbrannt, die Haut schälte sich. Ihm wurde bewusst, dass inzwischen die Abenddämmerung hereingebrochen war, und seine Schwester fiel ihm wieder ein. Er versuchte zu rennen, aber seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Er taumelte und stolperte, schwankte durch den Wald.
Der Korb mit den Pilzen stand immer noch unter dem Baum, aber Edith war verschwunden. Er lauschte, doch er vernahm nur die Geräusche des nächtlichen Waldes. Er rief nach Edith, leise zuerst, dann lauter. Eine Eule schrie. Wayland fand Ediths Spur. Sie führte auf die Schlucht zu. Die Bäume standen in diesem Teil des Waldes so dicht wie nirgends sonst, sodass selbst am helllichten Tage alles in Dämmer getaucht war. Der Hund war zu jung und erschrocken, um eine Hilfe zu sein. Er drückte sich an Waylands Beine, wich keinen Fingerbreit von ihm, und Wayland suchte und rief, bis es zu dunkel war, um noch irgendetwas zu erkennen. Dann ließ er sich mit dem Rücken an einem Baum heruntergleiten und blieb unbewegt sitzen. Wind kam auf, und es begann zu regnen. Eine Zeitlang rief er noch nach Edith, immer heiserer klang seine Stimme. Dann saß er nur noch da, den Blick ins Leere gerichtet, und der Hund drückte sich zitternd an ihn, während Wayland den Albtraum erneut durchlebte und sich auf den nächsten gefasst machte.
In der tropfnassen Morgendämmerung des nächsten Tages folgte er der Spur seiner Schwester über einen Friedhof vom Wind gefällter Baumgiganten am Rande der Schlucht. Bei einem Erdloch neben einer alten Esche endete die Spur. Einen Moment lang dachte er, sie wäre vielleicht in die Höhle eines Tieres gefallen. Doch als er in das Loch hinunterspähte, sah er durch Wurzelgewirr hindurch weit unten Wasser. Ediths Körper wurde in sein Blickfeld geschwemmt, sie trudelte mit dem Gesicht nach unten in der Strömung, das lange blonde Haar wie ein Fächer auf der Wasseroberfläche ausgebreitet. Er stieg hinunter, zog sie hoch, küsste ihr bleiches Gesicht und hielt sie fest an sich gedrückt. Als er sie auf den Boden legte, spürte er, wie sich etwas in seinem Inneren bis zum Zerreißen spannte. Er nahm ihr das Kreuz ab, warf den Kopf zurück und brüllte die Götter oder Ungeheuer an, die so schreckliche Grausamkeiten über seine Familie verhängt hatten.
Von diesem Tag an sprach er nie mehr ein Wort.
VI
Wieder schneite es, und dann setzte Frost ein. Eine Woche lang brachte der Winter das Land zum Stillstand. Der Frost war so stark, dass sich an den Flussufern Eisschollen bildeten und in den Nächten mit hallendem Knacken Bäume auseinanderbrachen. Im großen Palas drängten sich die Garnisonsangehörigen um das Feuer. Frische Lebensmittel wurden knapp. Die Zähne der Männer wackelten im Zahnfleisch. Jeden Tag zogen Wayland und sein Hund aus, um Fallen und Schlingen zu überprüfen. Sie kämpften sich durch den verschneiten Wald wie Gestalten auf einem Holzschnitt. Manchmal wurden sie von Raul begleitet, der sich dann seine Armbrust über den Rücken und ein Messer an seine Fuchsfellmütze hängte.
Eine Woche vor der Fastenzeit drehte nachts der Wind, und am nächsten Morgen stellten sie fest, dass der Winter auf dem Rückzug war. Eisschollen trieben den Fluss hinab. Bis zum Abend war sein Wasser über die Ufer getreten und hatte eine der Brücken weggeschwemmt. Am nächsten Morgen sah Hero einen entwurzelten Baum, der von dem entfesselten Gewässer mitgerissen wurde. Ein Hase hockte verängstigt auf dem einen Ende des Stamms, und vom anderen Ende aus starrte ihn ein Fuchs an.
Drei Tage später fand Hero beim Betreten des Bretterschuppens, der als Gästeunterkunft diente, Vallon wie üblich auf seinem Lager ausgestreckt vor. Dort grollte er schon ihren gesamten Zwangsaufenthalt lang über den strengen Winter.
Hero räusperte sich. «Die Überschwemmung geht langsam zurück. In einem Tag oder zwei werden die Bedingungen zum Reisen gut genug sein.»
Vallon knurrte bloß.
Hero nahm einen weiteren Anlauf. «Olbec hat für übermorgen eine Jagd angekündigt.»
«Es ist keine Jagdsaison.»
«Wir brauchen das Fleisch. Abends wird es ein Fest geben. Drogo möchte, dass Ihr mit ihm gemeinsam jagt.»
Vallon schnaubte. «Wie wir wissen, sucht er nur Streit.»
«Ihr müsst keine Befürchtungen haben. Lady Margaret hat darauf bestanden, dass Ihr mit ihrer Gruppe reitet.»
Vallon wandte Hero den Blick zu. «Wird der Graf dabei sein?»
Hero schüttelte den Kopf. «Seine Verletzungen würden ihm beim Reiten zu starke Schmerzen bereiten. Er bleibt in der Burg und sorgt für die Vorbereitung des Festes.»
Vallon starrte einen Moment lang nachdenklich vor sich hin, dann schwang er die Füße auf den Boden. «Sag der Lady, dass es mir eine Ehre ist, sie zu begleiten.»
Noch vor dem ersten Hahnenschrei verließ Wayland zusammen mit zwei Jägern und einem Forstmann die Burg, um nach einem Hirsch zu suchen, der mindestens ein Zehnender sein sollte. Die Jäger hatten Schweißhunde dabei – große, schwer gebaute Jagdhunde mit Hängewangen und trübselig wirkendem Blick. Ihre Aufgabe bestand darin, den Hirsch aufzuspüren und ihn lautlos bis zu seinem Versteck zu verfolgen. Das Frühstück der Jagdgesellschaft war noch in vollem Gange, als einer der Jäger zurückkam, um zu berichten, dass sie in einem Waldabschnitt jenseits des römischen Walls einen Zwölfender ausgemacht hatten. Mit ernster Miene zog er die Kappe von seinem Jagdhorn und ließ die Wildlosung auf den Tisch rollen. Drogo und seine Gefährten nahmen die Kötel in Augenschein, rochen daran, drückten sie zwischen den Fingern und kamen überein, dass sie von keinem Iltis, sondern von einem jagdbaren Tier stammten.
Hero sah der Jagdgesellschaft beim Aufbruch zu. Angeführt wurde sie von dem Jäger, der die Jagdhunde paarweise aneinandergeleint hatte. Drogo ritt an der Spitze der Jagdgruppe, am Ende folgten die Damen. Margaret war in Pelze und Seide gehüllt, und Vallon ritt auf einem geborgten Zelter. Er hatte sich das Haar stutzen lassen, nun fiel es in goldbraunen Wellen bis auf seine Schultern. Seine vornehme Haltung erfüllte Hero mit Stolz. Er winkte ihm zu und erntete ein würdevolles Nicken. Als Letzter kam der Priester, er wurde im Ochsenwagen des Schlachters hinterhergekarrt und klammerte sich an das vordere Querbrett wie ein Seemann, der sich dem aufkommenden Sturm entgegenstellt.
Die Pferde galoppierten über die Wiese und schleuderten dabei Erdbrocken in die Höhe. Wolken segelten über einen enzianblauen Himmel. Im Schatten lag immer noch Schnee, doch ganze Felder von Schlüsselblumen waren erblüht, und in jedem Gebüsch sangen die Vögel mit überschäumender Lebenskraft. Auf den Feldern um die Burg folgten die Bauern nach jahrhundertealter Tradition dem Pflug. Hero schloss die Augen, genoss die Sonnenwärme auf dem Gesicht und den Geruch frisch aufgebrochener Erde. Der Frühling war da. Die tiefsitzende Furcht in seinem Inneren begann abzuflauen, und stattdessen keimte Wohlbehagen in ihm auf.
Als die Jagdgesellschaft außer Sicht geriet, kehrte er in ihre schlichte Unterkunft zurück und setzte sich mit Pergament und Gallustinte an den groben Holztisch. Er tauchte die Schreibfeder ein und hob sie wie einen Zauberstab, doch die Magie, die er beschwören wollte, stellte sich nicht ein. Er zog die Augenbrauen zusammen. Er kratzte sich am Kopf. Er seufzte. Gedanken auf Pergament zu übertragen war keine leichte Aufgabe. So viele Wörter, unter denen man wählen musste, so viele Möglichkeiten, sie aneinanderzureihen. Während er am Ende der Schreibfeder saugte, überlegte er, welcher Schreibstil seinem Thema wohl am angemessensten wäre.
Die Flamme des Einfallsreichtums flackerte noch kurz auf, dann erstarb sie. Hero blies die Backen auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zur Decke hinauf. Dieser Tag hatte doch so vielversprechend begonnen, und nun zog sich jede einzelne Minute unerträglich in die Länge. Eine Biene schwirrte durch die Tür herein, summte durch den Raum und flog wieder ins Freie. Geistesabwesend schaute Hero durch das sonnige Rechteck der Türöffnung hinaus. Nach einer Weile wurde ihm die Stille bewusst. Er stand auf, ging leise zur Tür und spähte in alle Richtungen. Der Vorhof war, von zwei Wächtern abgesehen, die sich vor dem Torhaus in der Sonne wärmten, vollkommen verlassen. Hero ging wieder hinein, hob seinen Medizinkasten vom Bett und trug ihn zum Tisch. In den hölzernen Deckel waren Blumenmuster geschnitzt. Er hob den Deckel an, legte eine Hand darunter und drückte auf eine der geschnitzten Blumen. Darauf schwang der doppelte Boden herunter, und die Ledermappe glitt heraus, die ihm Meister Cosmas in seiner Todesstunde in die Hand gedrückt hatte. Er öffnete die Mappe. Darin befanden sich sechs Manuskriptseiten. Es war ein Brief – der Teil eines Briefes –, geschrieben in schlechtem Griechisch auf fleckigen und zerknickten Seiten, die, wie Cosmas ihm erklärt hatte, aus zerriebenem Hanf hergestellt worden waren.