«Ich war sehr aufgeregt. Ich habe ohne Beweis Behauptungen aufgestellt.»
Vallon stieg vom Pferd. «Und was sagst du damit? Dass der Verlust deiner eigenen Nachlässigkeit zuzuschreiben ist.»
«Ich war müde, als ich die Falkenkäfige für die Nacht abgedeckt habe.»
Vallons Augen verengte sich zu Schlitzen. «Wayland, ich habe dich schon krank und vollkommen erschöpft erlebt, aber um die Falken hast du dich immer gekümmert.»
«Vielleicht hat Syth vergessen, die Käfige zu versperren.»
Sie riss die Augen auf. «Wayland!»
Vallon trat dicht vor ihn. «Jetzt schiebst du die Schuld also deiner gewissenhaften Helferin zu.» Er stieß Wayland so hart vor die Brust, dass er einen Schritt zurücktaumelte. «Du solltest dich schämen.» Mit ärgerlich hochgerecktem Kinn wandte er sich ab. «Drogo, wenn noch einmal ein Falke unter verdächtigen Umständen verschwindet oder stirbt, warte ich nicht, bis dich ein anderer verdächtigt. Ich mache dich verantwortlich, und ich sage dir auch gleich, wie mein Urteil lauten wird. Ich werde mit dir das Gleiche machen wie du mit den Falken. Ich werde dich und Fulk ausstoßen, damit ihr euer Glück in der Wildnis versuchen könnt.»
Mit einem zornigen Blick auf Wayland ging er davon.
Syths Finger krallten sich in Waylands Arm. «Wie konntest du nur? Du weißt, dass ich es nicht war.»
«Es tut mir leid.»
«Aber? Warum?»
Wayland stöhnte. «Ich musste meine Anschuldigung zurücknehmen. Drogo weiß etwas, das meine eigene Stellung gefährden könnte.»
«Was denn?»
«Das kann ich dir nicht sagen.»
«Aber du hast versprochen, mir alles zu erzählen.»
«Und das habe ich auch. Alles, bis auf das.» Er machte ein paar Schritte vorwärts. «Syth, komm zurück. Bitte, hör mir zu.»
Aber sie war fortgelaufen, und es war dunkel geworden. Das Glöckchen des weißen Falken war aus dem Käfig heraus zu hören, und draußen in der Steppe stimmten die Nomaden die Totenklage an für ihren verlorenen Gefährten.
XLII
Sie fuhren weiter, und auf dem nächsten Abschnitt strömte der Fluss so breit und träge dahin, dass sie das Gefühl hatten, die Schiffe lägen reglos auf dem Wasser und das Land zöge an ihnen vorbei. Zwei Tage nach der Begegnung mit den Nomaden deutete Kolzak auf einen Schwarm Geier, der über einer Klippe am Ostufer kreiste. Igor drehte sich um und gab die Warnung weiter.
«Dort oben wohnt eine russische Bauernfamilie», erklärte Hero Vallon. «Die Lotsen glauben, dass den Leuten etwas zugestoßen ist.»
«Sag ihnen, sie sollen an Land gehen.»
Die Lotsen legten an, und die Soldaten aus Rus stiegen äußerst beklommen aus, um in ihren mit Hanfschnur umwickelten Bastsandalen zaudernd einen Sandweg entlangzugehen. Eine steife Brise trug Aschegeruch und Aasgestank zu ihnen. Das Haus war bis auf die Lehmmauern niedergebrannt worden. Als sie näher kamen, machte sich ein Steppenwolf davon, und drei Geier hüpften von einer halb aufgefressenen Kuh weg, bevor sie abhoben.
Eine fünfköpfige Familie hatte hier gewohnt, erzählten die Lotsen. Wayland entdeckte das, was von dem Familienvater noch übrig war, in einem Buchweizen-Stoppelfeld. Von seiner Frau und den drei Kindern fand sich keine Spur.
«Die Kumanen sind noch nicht lange weg», sagte er. «Höchstens vier Tage.»
Vallon blickte über die Steppe, die sich leicht hügelig bis zum Horizont erstreckte. Es war keine andere menschliche Behausung zu sehen, nicht einmal ein Baum, an dem man Entfernungen hätte abschätzen können. Der heftige Wind ließ das Gras schwanken.
«Warum haben sie sich in einer so gefährlichen Gegend niedergelassen?»
«Die Erde hier besteht aus ertragreichem Lehmboden. Die Kumanen waren schon seit ein paar Jahren nicht mehr so weit im Norden. Die Bauersleute haben ihr Glück versucht und verloren.»
Die menschenleere Weite jagte den Russen Angst ein. Sie rannten beinahe zu den Schiffen zurück und ließen den Bauern unbeerdigt liegen. Vallon und Wayland blieben noch etwas länger, lauschten auf den Wind im Gras und sahen den Wolkenschatten zu, die über die Steppe segelten. Sie stellten sich vor, wie der Bauer von einer alltäglichen Verrichtung aufgesehen und bewaffnete Reiter am Horizont entdeckt hatte.
Vallon zog die Schultern hoch. «Gehen wir.»
Der Dnjepr floss noch eine ganze Weile ruhig dahin, bis das linke Ufer steiler zu werden begann und die Strömung schneller wurde, weil sich das Flussbett zwischen Felsklippen verengte. Seit Kiew waren sie in südöstlicher Richtung gefahren. Nun verlief der Dnjepr direkt nach Süden, und die Reisenden sahen ihn durch eine Spalte in einem Felsplateau etwa vier Meilen flussab verschwinden.
«Pohori», rief Igor und deutete auf die Lücke. «Stromschnellen.»
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht, als die Lotsen die Tagesetappe an einer grasbestandenen Insel vor der Einmündung eines Nebenflusses beendeten. Weil die Tage inzwischen wesentlich kürzer als die Nächte waren, würden sie zwei Tage brauchen, um alle neun Stromschnellen hinter sich zu bringen. Wenn sie am kommenden Morgen beim ersten Tageslicht aufbrachen, konnten sie bis Sonnenuntergang die ersten fünf bewältigen.
Vallons Leute brachten die Pferde von Bord und legten ihnen an den Vorderläufen Beinfesseln an, bevor die Tiere grasen durften. Wayland und Syth brachen auf, um Futter für die Falken zu jagen. Vallon und Hero schlenderten an den Rand der Insel und sahen über den sandfarbenen Fluss, der sich auf die Lücke in den Granitwänden zuschlängelte. Der Himmel schwebte wie ein blauglasierter Teller über ihnen, auf den ein paar Schönwetterwolken getupft worden waren.
Hero warf Vallon einen Seitenblick zu. «Drogo wird bald den nächsten Versuch unternehmen, unsere Pläne zu durchkreuzen. Je näher wir ans Ziel kommen, desto erbitterter wird er gegen uns arbeiten.»
Vallon nickte. «Ich setze ihn und Fulk aus, sobald wir die Stromschnellen und das Gebiet der Kumanen hinter uns haben.»
«Sie werden in der Steppe nicht lange überleben.»
«Ich bin nicht so erbarmungslos, sie zum Tode zu verurteilen. Wir geben ihnen das Ersatzboot und genügend Vorräte, dass sie es bis zum Schwarzen Meer schaffen können. Wenn sie es erreichen …» Er unterbrach sich. «Da kommen Wayland und Syth.»
Sie kamen von der anderen Seite der Insel und liefen eilig auf sie zu. Vallon lächelte. «Kein Glück?»
«Reiter auf dem Westufer», sagte Wayland. Er nahm Vallon am Ellbogen und drehte ihn um. «Sie halten sich in Deckung, aber sie beobachten uns. Am besten tun wir so, als hätten wir sie nicht bemerkt.»
«Sind es Viehhirten?»
«Nein, sie haben Schilde und sowohl Seitenwaffen als auch Bögen. Ich habe vier gezählt, aber vielleicht sind es noch mehr. Wir müssen von der Insel weg. Das Wasser auf der anderen Seite ist seicht genug, dass wir durchreiten können.»
Vallon richtete den Blick auf ihr Lager. «Wir sollten uns genau überlegen, was wir machen. Die Russen könnten uns im Stich lassen, wenn sie mitbekommen, dass Kumanen in der Gegend sind.»
Auf dem Weg zum Lager stimmten sie einen Handlungsplan ab. Als sie ankamen, saß Richard allein am Feuer, und sie erzählten ihm von den Reitern. Sonst erfuhr niemand mehr davon. Hero ging zum Lager der Russen hinüber und lud die Lotsen zu Vallon ein, um den Weg durch die Schlucht zu besprechen. Vallon begrüßte sie gut aufgelegt, und Richard reichte ihnen Becher mit Honigwein.
«Also», sagte Hero. «Erzählt uns mehr über die Stromschnellen.»
Igor betete seine Antwort wie eine Litanei herunter. «Die erste heißt Kaidac. Sie hat vier Stufen.» Er ahmte eine Ruderbewegung nach. «Man hält sich auf der linken Seite. Die nächste ist Die Heftige, bei den Warägern heißt sie Die Schlaflose. Kurz danach kommt man an den gefährlichen Wogen-Fall mit drei Stufen und vielen gefährlichen Felsblöcken weiter flussab. Dann folgt Die Gellende. Wenn man sie durchfährt, bebt man vor Angst, so schrecklich tost einem schon Die Unersättliche entgegen. Dort stürzt der Fluss mit der Geschwindigkeit eines durchgehenden Pferdes über zwölf Felsstufen hinab. Aber es bleibt keine Zeit, um zur Besinnung zu kommen. Man kann nur beten und auf Gott vertrauen. Tausende Seelen und all ihre Schätze liegen auf dem Grund der tiefen Sturzbecken. Wenn man es durch Die Unersättliche geschafft hat und an den gefährlichen Felsen danach vorbeigekommen ist, beschreibt der Fluss an einer Insel vorbei eine Kehre Richtung Westen. Dort darf man keinesfalls unaufmerksam werden. Und das Beten darf man auch nicht einstellen. Denn nun folgt Der Wellenkessel, mit schäumender Gischt, die viele Gefahren unsichtbar macht.» Igor wiegte sich mit geschlossenen Augen von einer Seite zur anderen. «Kaum hat man Gott gedankt, dass er einen verschont hat, ist man auch schon im Wachrüttler. Danach wendet sich der Fluss wieder nach Süden und fließt Die Siedende hinunter, die eine geringere Gefahr darstellt. Nun erwartet einen nur noch Die Schlange, die sich sechs Stufen hinabwindet, bevor sie sich in den Wolfsrachen stürzt.»