Igor schlug die Augen auf und leerte mit einem Zug seinen Weinbecher. Hero sah Vallon an und zog ein Gesicht. «Er sagt, wir haben eine stürmische Fahrt vor uns.»
«Frag ihn, wo sich die Kumanen auf die Lauer legen.»
«Unterhalb der Schlange, beim Wolfsrachen», antwortete Igor. «Dort ist der Fluss keinen Pfeilschuss mehr breit, und die berittenen Bogenschützen können ihre Pfeile ganz leicht von oben in die Schiffe richten. Wenn man diesen Angriff überlebt, bekommt man es an der Furt zwischen dem Ende der Schlucht und der Sankt-Gregors-Insel noch mit ihrer Hauptstreitkraft zu tun.»
Hero nippte an seinem Honigwein. «Habt ihr beide die Stromschnellen jemals im Dunkeln durchfahren?»
Igor schnaubte bloß. «Natürlich nicht.»
«Ist es möglich?»
«Nur ein Narr würde das versuchen.»
Hero lächelte. «Fyodor hat uns aber erzählt, du könntest die Stromschnellen im Schlaf hinunterfahren.»
Igor wandte den Blick ab. «Ja, im Sommer könnte ich den genauen Kurs mit geschlossenen Augen finden. Aber bei so niedrigem Wasserstand ist alles anders. Ein paar der Fahrrinnen sind trockengefallen, und andere sind nicht breiter als Eure Boote. Man kann keinen Faden im Dunkeln einfädeln.» Er äugte in seinen Becher. «Warum fragt Ihr danach?»
Hero schenkte ihnen Wein nach. «Weil die Kumanen wissen, dass wir hier sind.»
Die Lotsen erstarrten mit dem Becher auf halbem Weg zum Mund.
Hero trat einen Schritt auf sie zu. «Wayland hat sie auf dem Westufer entdeckt. Inzwischen reiten bestimmt ein paar von ihnen nach Süden, um einen Hinterhalt vorzubereiten. Wir müssen so bald wie möglich los und alle neun Stromschnellen heute Nacht bewältigen. Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht, und danach scheint der Mond.» Er sah Kolzak zu den Russen hinüberschauen. «Sagt ihnen nichts, bevor wir die zweite Stromschnelle hinter uns haben. Sagt, wir fahren noch ein Stück flussab, damit wir morgen besonders früh loskommen.»
Igor sagte etwas zu Kolzak, und sie begannen auf Russisch zu streiten. Sie steigerten sich in solche Erregung hinein, dass sich die Soldaten nach ihnen umdrehten. Igor wollte weglaufen, aber Kolzak hielt ihn zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust, sein Faltengesicht war wütend verzogen. «Igor weigert sich», sagte Kolzak. «Er riskiert lieber Fyodors Bestrafung, als sich dem sicheren Tod auszuliefern.»
Hero beugte sich vor. «Hört genau zu. Wir haben den Wikingern nichts von den Kumanen erzählt. Wenn wir es tun, glaubt ihr, dass sie euch dann nach Kiew flüchten lassen, während sie sich den Reiternomaden allein stellen müssen? Außerdem ist da noch das Silber, das wir für eure Dienste bezahlt haben. Vallon ist kein Mann, der über einen Vertragsbruch hinwegsieht.»
Igor schluchzte in seine Hände hinein. Kolzak sprach beruhigend auf ihn ein. Dann breitete er ergeben die Arme aus. «Gott verfluche Fyodor Antonovich. Seine Seele soll von einem Pestgeschwür zerfressen werden.»
Eine Handbreit stand die Sonne noch über dem Horizont, als der Schiffskonvoi auf die Schlucht in dem Felsmassiv zuhielt. Die beiden Galeeren fuhren an der Spitze, gefolgt von Vallons Leuten, die das Ersatzboot im Schlepptau hatten, und zuletzt kamen Drogo und die Isländer. Sie fuhren in die Schlucht, und die Sonne verschwand hinter der westlichen Felswand. Die Klippen zu beiden Seiten stiegen dreihundert Fuß an, die Wände waren von senkrechten Spalten durchzogen, aus denen Bäume wucherten. Der Fluss beschrieb einen Bogen nach links, und das Murmeln schnell fließenden Wassers wurde hörbar. Wulfstan stand im Bug von Vallons Boot. «Haltet euch auf derselben Linie wie die Galeeren. Ein bisschen mehr rechts. Nicht hinschauen. Das ist meine Aufgabe. Weiter geht’s.»
Heros Magen hob sich, als sich der Bug des Bootes senkte. Schaukelnd glitt das Gefährt durch unruhige Wellen abwärts und schob sich dann in ruhiges Wasser.
Richard grinste. «So schlimm war’s ja gar nicht.»
«Das war die harmlose Stromschnelle», sagte Hero. Er sah über die Schulter zu der tief eingeschnittenen Felsenschlucht, durch die der Fluss gurgelte. Sie verlief meilenweit Richtung Süden. Die linken Uferklippen schnitten das Sonnenlicht ab, sodass die Klippen auf der rechten Uferseite in tiefen Schatten lagen.
Drei Meilen weiter kamen sie zu der Stromschnelle, die auch Die Schlaflose genannt wurde. Oberhalb von ihr schien das Wasser wie mit einer Haut überzogen, es schien eine dichtere Substanz zu haben, wie ein angespannter Muskel. Das Tosen wurde lauter. Wulfstan stand im Boot und hielt sich an einer der Spannwanten des Mastes fest.
«Setzt euch bei dieser Stromschnelle in Fahrtrichtung. Benutzt eure Riemen als Paddel.»
Sie beobachteten, wie die Galeeren die schräge Wasserrinne hinunterfuhren und unten in eine hohe Rücklaufwelle eintauchten. Das Boot folgte ihnen, wurde von der Strömung mitgezogen und schoss abwärts, um dann mit hoch aufspritzender Gischt auf die stehende Welle zu treffen. Dann waren sie wieder in ruhigerem Wasser, bis sie schon eine halbe Meile weiter die nächste Stromschnelle erwartete. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Lotsen winkten sie zu einer Felsbank, die beinahe quer durch die Schlucht verlief und den Fluss auf einer Viertelmeile zu einem brodelnden Wasserfall am felsigen rechten Ufer verengte.
Vallons Boot kam längsseits der russischen Galeeren. Kolzak rief etwas und deutete auf einen Wasserfächer, der über die Felsbank hinter seinem Schiff schwappte.
Hero versuchte angestrengt zu verstehen, was Kolzak sagen wollte. «Hier ist normalerweise die Fahrrinne, aber sie ist verschwunden. Der Flusspegel ist fünf Fuß niedriger als im Sommer.»
«Und was machen sie jetzt?»
«Sie ziehen die Schiffe hinüber. Hebeln sie mit Stangen auf die Felsbank, und dann sollen sich ein paar von uns auf der anderen Seite ins Wasser stellen und sie an Seilen weiterziehen, während die Übrigen von hinten schieben.»
Vallon sprang auf die Felsbank. Um sie zu überwinden, würden sie die Schiffe hundert Schritt weit ein natürliches Wehr hinunterziehen müssen, das nun durch den niedrigen Wasserstand trockenlag. Die Nachmittagssonne war schon hinter den Rand der Schlucht gesunken. «Es würde die ganze Nacht dauern, die Galeeren dort hinunterzuziehen.»
«Es gibt nur eine Möglichkeit», sagte Drogo. «Unsere Boote sind leicht genug, um sie vorm Dunkelwerden über die Felsbank zu bringen. Nimm die Lotsen mit und lass alle anderen zurück.»
«Wir sollen die Sklaven aufgeben?», sagte Richard.
«Sie haben keine Bedeutung für uns.»
«Genauso wenig wie du.»
«Vallon, du weißt, dass es unsere einzige Chance ist.»
Bevor Vallon eine Entscheidung treffen konnte, wurde nach ihm gerufen, und er sah Wayland, der ihn zum Rand des Wasserfalls winkte. Das Wasser stürzte wie in einem riesenhaften Mühlgraben abwärts in ein Becken und raste gischtsprühend an einen Felsvorsprung, der vierzig Schritt weiter in den Fluss ragte. Wie eine stehende Welle lief das Wasser an die Wand der Schlucht, stieg an ihr empor, breitete sich aus, und dann stürzten die Wassermassen wieder zurück, bevor sie in einer neuen Woge zum nächsten Angriff zusammenliefen. Schwarze Strudellöcher und Felsspitzen wie riesenhafte Reißzähne schienen zwischen den Wellen auf. Der Gedanke, in einen dieser finsteren Wirbel hinabgezogen zu werden, trieb Vallon den kalten Schweiß auf die Stirn.