«Ihr seid verwundet.»
Vallon spürte das warme Blut an seiner Schulter herunterlaufen. «Nur ein Kratzer. Hilf mir hoch.»
Unsicher kam er auf die Füße, sein Unterkiefer zitterte in einem Kältekrampf. «Ist Syth wohlauf?»
«Das ist sie, Gott sei Dank.»
Vallon stapfte unsicher herum und stolperte beinahe über die Leiche eines Sklavenmädchens, das mit zwei Pfeilen im Rücken im Boot lag. Hero saß im Heck, teilweise verdeckt von einem der Wikinger. Er schien zu grinsen, aber als Vallon schlingernd näher kam, las er von seiner Miene ab, dass etwas Schreckliches passiert war.
«Richard wurde getroffen», sagte Hero. «Es sieht böse aus.»
XLIV
Hero hielt Richard halb aufrecht. Vallon schob die Sklaven zur Seite und ging neben ihnen in die Hocke. Richard atmete flach und angestrengt. Er hielt die Hand auf die linke Seite der Brust gedrückt. Hero zog in sanft nach vorn, um Vallon den Pfeil in seinem Rücken zu zeigen. Er war dicht neben der Wirbelsäule bis wenige Zoll vor der Befiederung eingedrungen. Vallon nahm Richards Hand von seiner Brust. Die Pfeilspitze war nicht vorn ausgetreten. Dann hob er Richards Kinn an, um sein Gesicht anzuschauen. Die Pupillen waren erweitert, und blutiger Speichel rann aus seinem Mund.
Vallon fuhr sich mit den Fingerknöcheln über die Augen. Dann sah er Hero an. Beide wussten, dass diese Verwundung tödlich war.
«Wir müssen an Land», sagte Hero. «Je früher ich ihn operiere, desto besser stehen seine Chancen.»
Vallon sah zu den Nomaden hinüber, die im heller werdenden Morgenlicht am Ufer entlanggaloppierten. «Wir können nicht halten, solange die Kumanen in der Nähe sind.»
«Ich kann Richard an Bord nicht behandeln. Auf der Sankt-Gregors-Insel sind wir sicher. Dorthin kommen die Nomaden ohne Boote nicht.»
Die felsige Spitze der Insel lag vor ihnen, die Galeere fuhr gerade in den linken Wasserkanal ein. Einer der Sklaven schrie auf und deutete auf den Fluss. Zwei ihrer Gefährten trieben wie Sterne auf dem Wasser, Arme und Beine ausgestreckt, das weiße Haar um den Kopf driftend.
«Welche Galeere ist untergegangen?», fragte Vallon.
«Die von Igor. Wir haben seine Leiche nicht gefunden. Diese vier Sklaven hier konnten wir retten, und das andere Boot hat noch zwei und einen von den Russen aufgefischt. Alle anderen sind ertrunken.»
«Und wer ist an der Furt noch umgekommen?», fragte Vallon und presste die Lippen aufeinander.
«Caitlins Dienerin und einer von den Wikingern aus dem anderen Boot. Wie viele auf der Galeere gestorben sind, weiß ich nicht.» Hero bemerkte Vallons blutende Schulter. «Das will ich mir ansehen.»
«Später. Kümmere dich zuerst um Richard.»
Wayland legte Vallon eine Decke über die Schultern. «Ihr zieht besser die nassen Sachen aus.»
Die Sonne ging auf, und die Kumanen wirkten wie Schattenrisse vor einem zinnoberroten Hintergrund. Sie verfolgten den Schiffsverband immer noch, als das Ende der Insel in Sicht kam. Dahinter verbreiterte sich der Dnjepr stark und floss zwischen einer endlosen Steppe dahin. Richard atmete sehr schnell, jeder flache Atemzug war von einem leisen Stöhnen begleitet.
Vallon kam in trockener Kleidung wieder zu ihnen.
«Das ist unsere letzte Gelegenheit, an Land zu gehen», sagte Hero.
«Wenn wir anhalten, fährt die Galeere ohne uns weiter», gab Drogo zu bedenken.
«Richard ist dein Bruder!»
«Und Fulk war mein bester Freund. Ich konnte ihn nicht retten, und du kannst Richard nicht retten.»
Hero sah Vallon flehend an. «Bitte. Ich bitte Euch.»
Vallon zitterte, er hielt sich an dem leeren Pferdeunterstand fest. Wulfstan und die Wikinger in dem anderen Boot hatten mit dem Rudern aufgehört und beobachteten ihn.
«Wir rudern zu der Insel», sagte er. «Erklärt Kolzak, dass er warten soll, während wir einen Verwundeten behandeln.»
Sie lehnten Richard mit dem Rücken an eine riesenhafte Eiche, die schon den ersten Wikingern Schatten gespendet hatte, die auf der Straße zu den Griechen gereist waren. Handelsgeschäfte waren unter ihr abgeschlossen worden, Verträge unterzeichnet und gebrochen, Opfergaben dargebracht. Von hier aus hatte einer der ersten Herrscher von Rus tausend Schiffe gegen Konstantinopel geschickt. Hier hatte Großfürst Swjatoslaw einen Winter verbracht, bevor ihn die Petschenegen töteten und seinen Schädel mit Gold einfassten, um daraus fermentierte Stutenmilch zu trinken.
Die Wikinger standen mit grimmigen Mienen kopfschüttelnd dabei, als Hero Richards Kittel aufschnitt. Der Pfeil war in flachem Winkel zwischen der dritten und vierten Rippe eingedrungen und hatte sich durch den linken Lungenflügel gebohrt. Er wäre glatt auf der anderen Seite wieder ausgetreten, wenn ihn nicht eine Rippe an der Vorderseite des Körpers etwas unterhalb der linken Achselhöhle aufgehalten hätte. Ein blauer Fleck zeigte an, wo der Pfeilkopf stecken geblieben war. Hero führte Vallon aus Richards Hörweite.
«Die Spitze sitzt unterhalb der Rippen. Ich glaube, ich kann sie herausholen.»
«Wie? Der Pfeil hat Widerhaken.»
«Ich habe ein Instrument, das zur Entfernung von Widerhaken entwickelt wurde, aber in diesem Fall ist der Pfeil zu tief eingedrungen. Wenn man ihn nach hinten herauszieht, verursacht man erst recht eine tödliche Verletzung.»
«Es gibt nur eine Art, mit so einer Wunde umzugehen. Man muss das Ende des Pfeils gerade absägen und mit dem Hammer darauf schlagen, bis er vorne austritt. Brutal, aber ich habe schon erlebt, dass es funktioniert hat.»
«Der Schaft würde brechen. Entweder das, oder die Pfeilspitze verletzt ein wichtiges Blutgefäß. Nein, ich muss ihn herausschneiden.»
«Hero, ganz gleich, was du tust, es ist beinahe sicher, dass Richard stirbt. Wir sollten uns lieber darum kümmern, dass er in seinen letzten Stunden so wenig Schmerzen wie möglich leiden muss.»
Da rief Kolzak nach ihnen und zeigte auf die Kumanen. Sie teilten sich. Eine Gruppe ritt zur Furt zurück, die andere, eine rote Staubwolke hinter sich herziehend, Richtung Süden. «Es ist zu gefährlich hierzubleiben.»
«Wartet, bis ich Richard behandelt habe!», rief Hero ihm zu.
«Ihr seid nicht die Einzigen mit Verwundeten. Wir müssen weg, bevor die Nomaden einen neuen Hinterhalt vorbereiten können.»
Taub für Heros Bitten, steuerte Kolzak die Galeere in die Fahrrinne und deutete rufend flussabwärts.
«Was sagt er?», wollte Vallon wissen.
«Wenn wir sie nicht einholen, warten sie an der Mündung auf uns.»
«Nein, das werden sie nicht», sagte Drogo. «Kolzak hat bereits seinen Bruder und die Hälfte der Sklaven verloren.
Vallon drehte sich zu den Wikingern um. «Wulfstan, halt sie auf. Mit Gewalt, wenn nötig.»
Ihre Blicke versenkten sich ineinander, und da wusste Vallon, was als Nächstes geschehen würde und dass er nichts tun konnte, um es zu verhindern. Wulfstan rannte zu seinem Boot. «Kommt mit, Leute. Dort schwimmt uns die Beute weg.»
Die Wikinger hasteten zum Ufer und stießen mit dem Boot ab. Alles löste sich auf. Drogo packte Caitlin am Arm und zog sie hinter den Wikingern her. «Wartet auf mich!»
Die Wikinger zögerten. Drogo erreichte den Fluss und sprang ins Wasser, immer noch Caitlin hinter sich herziehend. Sie riss sich los, doch Drogo bekam sie wieder am Arm zu fassen. Mit dem freien Arm holte sie aus und schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er rückwärts ins Wasser fiel. Sie watete zum Ufer zurück, wo sie von Vallon aufgefangen wurde, der mit dem Schwert auf Drogo zeigte.
«Geh mit den Wikingern.»
Drogo drehte sich um, doch es war zu spät. Die Wikinger ruderten wie besessen hinter der Galeere her, auf der die Russen ihre Anstrengungen verdoppelt hatten, weil ihnen nur allzu bewusst war, welches Schicksal ihnen bevorstand, wenn die Wikinger sie einholten. Vallon beobachtete, wie die Wikinger die Galeere erreichten, an Bord kletterten und die schwache Gegenwehr niedermachten. Einer der russischen Soldaten stürzte in den Fluss, und das Kriegshorn der Wikinger wurde geblasen.