Vallon strich sich mit den Fingerknöcheln über den Mund.
«Osten oder Westen», sagte Drogo. «Was soll es sein?»
«Weder noch.» Vallon deutete aufs Meer hinaus, das Richards Leiche im Kanu wegtrug. «Wir werden dem Kurs folgen, den dein kleiner Bruder genommen hat.»
«Was? Wir werden doch wohl nicht versuchen, das Meer mit unserem kleinen Boot zu überqueren!»
«Die Griechen haben Kolonien an der gesamten Schwarzmeerküste. Das bedeutet, dass es eine Menge Schiffsverkehr gibt. Wir segeln südwärts, bis wir eine Seestraße erreichen und warten, bis uns ein Schiff aufnimmt.» Vallon sah in die Runde. «Hat jemand einen besseren Vorschlag?» Dann klopfte er sich auf den Oberschenkel. «Also abgemacht.»
XLV
Am Abend vor der Abfahrt verschlechterte sich der Zustand der drei kranken Nestlinge. Zwei wollten nicht fressen. Der dritte nahm einen Brocken, doch dann würgte er ihn unverdaut wieder hoch. Er saß schwerfällig da, das Gefieder leicht zerzaust, die Augen zu ovalen Schlitzen verengt. Als Wayland morgens nach den Falken sah, lagen zwei der Nestlinge steif in ihren Käfigen, die Klauen fest zusammengekrümmt, und unter ihrem Gefieder wuselten Läuse.
Sie legten unter einem kalten, bezogenen Himmel ab. An der Stelle, wo die Farbe des Wassers von Schlammiggelb zu Grau wechselte, stießen sie auf Richards Begräbnisboot. Vier Geier hockten auf den Dollborden, und Möwen und Milane schwebten über der eingehüllten Leiche. Die Reisenden bekreuzigten sich, zogen das Segel auf und nahmen Kurs aufs offene Meer.
Als es dämmerte, war kein Land mehr in Sicht, und sie hatten kein einziges Schiff gesehen. Nachdem es dunkel geworden war, frischte der Wind auf, und Wellen brachen sich am Boot, sodass sie es immer wieder ausschöpfen mussten. Eine schlaflose Nacht wurde von einem weiteren kalten, grauen Tag abgelöst. Sie segelten weiter, ohne zu wissen, wohin genau. Gegen Abend glaubte Wayland auf Steuerbord Meilen entfernt ein Schiff zu sehen. Doch keiner der anderen sah es, und bald darauf war es dunkel.
Der dritte Morgen brach klar und sonnig an, das Meer war immer noch kabbelig, und noch immer war kein Schiff in Sicht. Der Wind trug sie nach Westen, und sie sahen sich mit blutunterlaufenen Augen an, weil sie wussten, dass sie zu weit vom Land entfernt waren, um es noch zu erreichen.
Am späten Vormittag entdeckte Wayland ein Segel, das von Osten näher kam. Sie korrigierten ihre Fahrtrichtung, damit sich die Kurse kreuzten. Hero erkannte das Schiff als das eines venezianischen Händlers. Es glitt so nahe an ihnen vorbei, dass Vallons wie besessen winkende Leute sehen konnten, wie die Schiffsbesatzung mit den Fingern auf sie deutete. Doch das Schiff segelte ohne Richtungswechsel weiter, verfolgt von Flüchen aus Vallons Boot.
Nicht lange nachdem es außer Sicht geraten war, tauchte ein weiteres Schiff auf, ebenfalls auf Westkurs. Es war wesentlich größer und fuhr unter zwei Lateinersegeln.
«Das ist eine Dromone», sagte Hero. «Eine byzantinische Kriegsgaleere. Seht euch die Doppelreihen mit Ruderpforten an. Auf diesem Schiff müssen hundert Mann Besatzung fahren.»
Vallon musterte das Schiff. «Holt das Segel ein. Wir geben kein Signal.»
Drogo sprang auf. «Bist du von Sinnen?»
«Beruhige dich. Sie hätten nur einen einzigen Grund, uns aufzunehmen. Und ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens als Galeerensklave zu verbringen.»
Sie beobachteten, wie die Galeere vorbeifuhr. «Lasst euch nicht entmutigen», sagte Vallon. «Wir haben schon zwei Schiffe gesehen. Wir sind an der richtigen Stelle.»
Doch an diesem Tag und auch am nächsten Vormittag tauchten keine Schiffe mehr auf. Der weiße Falke hatte immer noch gesunden Appetit und wache Augen. Der Terzel-Nestling hockte in die Ecke seines Käfigs gedrückt. Als Wayland ihn auf seine Faust platzierte, hatte das Tier einen unsicheren Tritt und interessierte sich nicht für das angebotene Futter. Wayland setzte ihn wieder in den Käfig.
Und er erzählte den anderen nichts davon, dass das Tier bald sterben würde. Sie hatten genug mit ihren eigenen Sorgen zu kämpfen, saßen zusammengesunken im Boot, das Haar steif vom Salzwasser, die Gesichter weiß überkrustet, in den Mundwinkeln getrocknete Spuren von Erbrochenem.
Die Sonne berührte schon das Meer, als Wayland den Blick noch einmal über den Horizont wandern ließ und wieder ein Segel bemerkte. Einen winzigen Umriss vor dem Himmel, den das Abendrot färbte. Aller Augen waren auf das Segel gerichtet, auf dem Boot herrschte tiefes Schweigen. Niemand wagte es, seine Hoffnung in Worte zu kleiden. Das Segel wurde größer.
«Kommt auf uns zu», sagte Wayland.
«Richtung Osten», sagte Drogo. «Falsche Richtung.»
«Es gibt keine falsche Richtung», entgegnete Vallon.
Das Schiff segelte dicht am Wind und kam nur langsam vorwärts. Der Abendstern war schon zu sehen, bis der Schiffsrumpf über der Horizontlinie erkennbar wurde.
Drogo hörte auf zu winken. «Es ist zu dunkel. Sie können uns nicht sehen.»
«Zündet eine Fackel an», sagte Vallon.
Das Schiff war in der Dunkelheit verschwunden, als es ihnen endlich gelungen war, ein feuchtes Tau anzuzünden. Wayland hielt es über seinem Kopf in die Höhe.
«Für so ein kümmerliches Licht werden sie nicht anhalten», sagte Drogo.
«Ruft nach ihnen», ordnete Vallon an.
Sie schwenkten die notdürftige Fackel und schrien in die Finsternis, bis sie heiser waren.
Da streckte Hero den Arm aus. «Dort drüben!»
Auf Backbord war ein schwaches Schimmern zu sehen. Dann wurde das Licht deutlicher, ein zweites kam dazu, dann ein drittes. Die Fackeln schwammen durch die Dunkelheit auf sie zu, bis Hero schließlich die Gesichter der Männer erkennen konnte, die sie trugen. Außerdem konnte er den Umriss des Schiffs ausmachen. Es war ein eigentümliches Gefährt mit einem sehr hohen Vordersteven, erheblicher Breite am Mast, und am breitesten war es achtern. Einer der Fackelträger stand auf dem Vordeck, und als eine Windbö die Flammen anfachte, erhaschte Hero einen Blick auf das Auge, das an den Bug gemalt war, und einen Namen auf Griechisch. Planetes – «Der Wanderer».
«Wer seid ihr?», rief eine Stimme. «Was ist passiert?»
«Schiffbrüchige Händler», schrie Hero. «Wir waren auf dem Weg von Kiew nach Konstantinopel, als unser Schiff gesunken ist. Wir treiben jetzt schon vier Tage auf dem Meer und haben kaum noch etwas zu essen und zu trinken. Wir haben Frauen dabei. Um der gütigen Himmelskönigin willen, rettet uns.»
Die Fackeln drängten sich zusammen. Das Gestikulieren der Seeleute machte deutlich, dass einige dafür waren, die Schiffbrüchigen ihrem Schicksal zu überlassen.
«Wir wollen euch genauer sehen können», rief die Stimme.
Vier raue Gesellen und ein Junge spähten vom Deck herunter, als sie längsseits kamen. «Wer sind die zwei?», fragte der Kapitän und deutete auf Vallon und Drogo.
«Soldaten auf dem Weg zur Warägergarde.»
«Ich nehme keine bewaffneten Männer auf mein Schiff. Übergebt uns die Waffen. Ihr seht nicht aus wie Piraten, aber wie ehrliche Kaufleute genauso wenig.»
Als sie ihre Waffen übergeben hatten, zogen die Seeleute sie an Bord und führten sie zum Bug, vorbei an einem Laderaum, in dem ein Dutzend Pferde in Boxen standen. Das Schiff war ein ramponierter Trampsegler, auf dem es nach Bilgewasser und ehemaligen Öl- und Fischladungen stank. Der Schiffsführer war hässlich wie die Sünde, mit einer enormen Hakennase und fettigem Haar, das wie ein Bündel toter Schlangen von seinem auf der Kopfmitte kahlen Schädel baumelte. Sein Name war Bardas. Er wusste nicht, was er von seinen Passagieren halten sollte, aber der Anblick von Caitlin, die Syth beruhigend übers Haar strich, schien eine Art bärbeißiges Mitleid in ihm zu wecken.
«Ihr bleibt im Bug. Ich bringe euch etwas zu essen, sobald ich kann.»