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Hero beugte sich zu ihm herüber. «Und Drogo weiß nichts von dem verlorenen Evangelium. Vielleicht hält das Schicksal ja doch noch ein oder zwei Überraschungen bereit.»

Wayland führte die Gruppe den ansteigenden Waldweg hinauf. Die Pferdehufe rutschten laut über den steinigen Untergrund, und sie waren noch nicht weit gekommen, als ein Hund zu bellen anfing und von einer Stimme zur Ruhe gemahnt wurde. Noch zwei weitere schlafende Haushalte weckten sie auf. Vor einem der Gehöfte rannten zwei zähnefletschende Wachhunde auf den Weg und erschreckten die Pferde, bevor Wayland sie vertrieb. Die ganze Nacht stiegen sie zwischen immergrünen Eichen und Esskastanienbäumen höher. Als es dämmerte, waren keine Ansiedlungen mehr zu sehen, und sie hielten bei einem Fluss in einer Kalksteinschlucht.

Nachdem sie gegessen hatten, schliefen sie bis mittags und setzten dann ihren Aufstieg zwischen nebelverhangenen Kiefern fort. Die Dunstschwaden wurden immer dichter, zogen kalt und grau vom Gipfel herab. In den Senken lag Schnee, und die Pferde keuchten angestrengt in der dünner werdenden Luft.

Als sie aus dem Nebel herauskamen, sahen sie die beiden Gipfel blendend weiß aus einer Wolkenbank ragen. Sie ritten zur Passhöhe weiter, der Schnee reichte den Pferden nun bis zu den Fesseln. Oben auf dem Schneefeld glitt ein Raubvogel mit dem Umriss eines Riesenfalken niedrig und langsam über ihren Weg, ein Flügel streifte beinahe den Schnee. Sein Kopf schimmerte golden im Sonnenlicht, und er sah sie mit blutroten, schwarzumrandeten Augen, unter denen ein schwarzer Bart hing, so durchdringend an, dass jeder Einzelne von ihnen das Gefühl hatte, unversehens vor seinem Richter zu stehen.

Sie quälten sich über den Pass, ihre Schatten begleiteten sie in den flachen Sonnenstrahlen als langgezogene, magere Schemen. Jenseits der Wasserscheide fiel die Gebirgskette in dünn bewaldeten Berggraten ab, die zu einem unfruchtbaren Hochplateau hin ausliefen, das sich als eintönige Welt der Horizontalen bis weit in die Ferne zog, wo es sich in einem rosigen Hauch aufzulösen schien. Dann verblassten die Sonnenstrahlen unversehens, und das Land versank in trübem, bleiernem Grau. Sie führten ihre Pferde durch kalte Schatten abwärts und waren immer noch oberhalb der Schneegrenze, als es zu dunkel wurde, um noch etwas zu sehen. Wayland fand einen geschützten Platz unter einem Felsvorsprung, wo sie viele alte Feuerstellen und Knochen entdeckten. Die Flammen ihres Lagerfeuers warfen Schattenspiele auf die Felswände und erweckten Bilder von Tieren und Jägern zum Leben, die vor zehntausend Jahren gestorben waren.

Am nächsten Morgen stiegen sie bis zum Hochplateau ab und machten sich an dessen Überquerung. Sie blieben den ganzen Tag im Sattel, immer dieselbe eintönige Landschaft vor Augen. Gegen Abend erreichten sie die obere Kante eines steilen Geländeabbruchs und entdeckten in dem weiten Talkessel unter sich überall die fledermausförmigen Formen von Nomadenzelten. Über Dutzenden von ihnen schwebte der Rauch von Kochfeuern. Sie schlugen einen weiten Bogen und lagerten in einer Schlucht des Ödlandes. Dort aßen sie und starrten in die roten Flammen des Lagerfeuers, in dem die Gedanken aller Reisenden in der Wildnis geschmiedet werden.

«Wie viel haben wir noch zu essen?», fragte Vallon Hero.

«Genug, um noch einen oder zwei Tage durchzuhalten.»

«Ich habe kein Futter mehr für den Gerfalken», sagte Wayland.

Vallon stocherte mit einem Zweig im Feuer herum. «Wir können den Nomaden nicht mehr lange ausweichen. Wir geben beim nächsten Lager auf und bitten sie, einen Boten zum Emir zu schicken.»

«Sie könnten uns töten», sagte Drogo.

«Der Emir hat Cosmas eine Art Schutzbrief gegeben», wandte sich Vallon an Hero. «Hast du ihn noch?»

«Er ist in meinem Kasten.»

«Halte ihn bereit.»

«Nomaden können aber nicht lesen», sagte Drogo.

«Sie werden das Siegel des Emirs erkennen.»

«Und was ist, wenn sie zu einem rivalisierenden Clan gehören?»

Vallon warf den Zweig ins Feuer. «Drogo, warum hältst du nicht einfach den Mund?»

Zur Mittagszeit des nächsten Tages arbeiteten sie sich eine Schieferrinne zu einem Gebirgssattel hinauf, den die Pferde auf dem losen Gestein nur mühsam bewältigten. Ein grässlicher Wind blies ihnen Staub ins Gesicht, sodass sie mit zusammengekniffenen Augen ritten und die berittenen Seldschuken nicht sahen, die sie leise wie Katzen einkreisten, sodass sie sich mit einem Mal zwischen ihnen wiederfanden. Es waren sechs, nein doppelt so viele. Und als Vallon sich umsah, wurden es immer mehr, bis ihnen schließlich zwanzig berittene Soldaten den Weg versperrten. Sie saßen mit lässigem Aplomb auf ihren Pferden, die Lanzen vertikal in den Händen, die Wimpel unter den Eisenspitzen flatterten im Wind. Alle trugen Bögen mit Doppelkrümmung an ihren Gürteln oder quer über die Sättel gelegt. An Seitenwaffen waren sie mit Schwertern und Keulen ausgerüstet, und jeder Mann trug auf dem Rücken einen runden Holzschild.

«Keiner rührt sich.»

Hero tastete unter seinem Gewand herum, ohne den Blick von den Seldschuken zu lösen. Er fand den Schutzbrief und hielt ihn in die Höhe. «Von Emir Suleiman», rief er auf Arabisch. «Seht, sein tughra

Wie Öl, das sich auf Wasser trennt, hatten die Seldschuken zwei Kolonnen gebildet. Einige stiegen von ihren elegant tänzelnden Pferden und kamen näher. Breite, glatte Gesichter, auf denen Ruß und Wollfett glänzten. Lebhafte, achatgrüne Augen. Sie trugen gesteppte Wickelmäntel, deren Seitennähte unterhalb der Taille offen waren, Filzhosen, die sie in ihre hohen Stiefel gesteckt hatten, und kegelförmige Hüte mit Pelzrand. Einige hatte sich gegen die Kälte in Schafsfelle gewickelt.

Einer nahm Hero das Dokument aus der Hand und reichte es einem Offizier, der einen Wappenrock aus Seide trug. Er konnte kaum älter sein als zwanzig, und sein Gesicht glänzte wie ein Apfel. Nachdem er das Siegel gemustert hatte, hielt er es seinen Männern zu Beurteilung hin.

Sie kamen überein, dass es sich um Suleimans tughra handelte, und sein Name wurde von einem zum anderen weitergegeben.

Der junge Seldschuken-Hauptmann wandte sich in seiner gutturalen Sprache an Hero.

«Ich verstehe Euch nicht», sagte Hero. «Spricht einer von Euren Leuten arabisch?»

Der Hauptmann rief einen Reiter mit dunklerer Haut und schärferer Nase, als seine Kameraden sie besaßen, zu sich. Der Mann ritt auf Hero zu. «Was wollt Ihr von Seiner Exzellenz?»

Hero dankte ihm im Stillen für die «Exzellenz». Seine Wortwahl bedeutete, dass diese Seldschuken in den Diensten des Emirs standen. «Wir sind auf dem Weg zum Hauptquartier, um einen Soldaten freizukaufen, der bei Manzikert gefangen genommen wurde.»

Das war ein Name, den sie erkannten. Grinsend schubsten sie sich an, während der Arabischsprecher für seinen Hauptmann übersetzte. Dann wandte er sich wieder an Hero. «Was habt Ihr als Auslösung mitgebracht?»

Wayland hielt den Falkenkäfig vor sich im Sattel. Hero deutete darauf. «Shaheen», sagte er. «Edelfalke.» Er kannte das arabische Wort für Gerfalke nicht.

Der Seldschuken-Hauptmann zog sein Schwert und hob mit der Spitze das Tuch von dem Käfig. Der erschreckte Falke begann mit den Flügeln zu schlagen, und der Hauptmann zuckte zurück. Seine Männer lachten. Der Hauptmann lachte ebenfalls, bevor er das Tier genauer in Augenschein nahm. «Sonqur», erklärte er seinen Männern. «Chagan sonqur.»

Er taxierte die Reisenden erneut, sah die Frauen nur flüchtig an, dann blieb sein Blick an Vallon hängen. Er nahm den juwelenbesetzten Schwertknauf zur Kenntnis, sah Vallon in die Augen und neigte kaum merklich das Kinn. Vallon nickte zurück. Auf ein scharfes Kommando hin nahmen die Seldschuken um die Gefangenen herum Aufstellung. Ein weiterer Befehl, und sie ritten los. Zwei der Reitersoldaten galoppierten über den Gebirgssattel voran, um die Nachricht von ihrer Gefangennahme zu überbringen.