Die Seldschuken ritten ohne Pause, und sie ritten immer noch, als es schon lange dunkel geworden war und ihre Gefangenen vor Müdigkeit im Sattel zusammensackten. Es begann zu schneien. Vallon fragte sich schon, ob sie blind durch die Nacht reiten sollten, als irgendwo vor ihnen ein Hund zu bellen anfing und ein Mann einen Gruß rief. Die Seldschuken hatten ein Nomadenlager gefunden. Der Hauptmann befahl den Gefangenen abzusteigen. Während seine Männer ihre Pferde wegführten, führte er sie in ein geräumiges Wollzelt. Taumelnd vor Kälte und Erschöpfung zogen sie ihr Schuhwerk aus und ließen sich ums Lagerfeuer nieder.
Im Hintergrund liefen drei Generationen Nomaden durcheinander, die ein Essen kochten. Die meisten von Vallons Gruppe waren im Sitzen eingeschlafen, als das Oberhaupt der Familie unterstützt von weiteren Familienmitgliedern einen in Hammelfett schwimmenden Kichererbseneintopf hereintrug. Auf Waylands Bitte hin erklärte Hero dem Seldschuken-Hauptmann, dass der Falke seit zwei Tagen nichts gefressen hatte. Einer der Seldschuken ging hinaus und brachte ein lebendes Hühnchen herein. Wayland drehte dem Tier den Hals um, viertelte es, nahm den Falken aus dem Käfig und fütterte ihn. Die Seldschuken verfolgten jede seiner Gesten mit größter Aufmerksamkeit und wechselten bewundernde Kommentare. Die Atmosphäre entspannte sich. Der Hauptmann erzählte ihnen, sein Name sei Chinua, das bedeute «Wolf», und dass er bei Manzikert gekämpft und viele Griechen getötet habe. Er fragte seine Gefangenen, auf welchem Weg sie nach Anatolien gekommen seien, und Hero erzählte einen Teil ihrer Geschichte. Die Seldschuken hörten sehr interessiert zu und schmückten die Passagen, die sie verstanden, noch aus, als würde es sich um eine Geschichte handeln, die ihnen auf den Knien ihres Großvaters oder ihrer Großmutter erzählt wurde.
Einige der Nomaden waren schon auf den Beinen, als Vallon tief in der Nacht aufwachte und vor das Zelt trat. Es hatte aufgehört zu schneien, und eine Million Sterne funkelte am schwarzblauen Firmament. Die Luft war schneidend kalt, und unter seinen Schritten knirschte der Frost. Er war fast mit Pissen fertig, als ein großer, welliger Eisbrocken vor ihm buckelte wie ein Monsterschneehuhn und drei Kamele schlingernd auf die Füße kamen, wobei ihnen die Schneeschicht von den Flanken rutschte. Schnee hing auch in ihren Wimpern, und von ihren Mäulern hingen winzige Eiszapfen herunter.
Vor dem Morgengrauen waren sie schon wieder unterwegs, ritten ein breites Flusstal hinauf, in dem überwinternde Nomaden ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nach zwei weiteren Tagen erreichten sie eine steinige Anhöhe und sahen einen milchig blauen See, der sich bis zum Horizont erstreckte und von flachen, schneeweißen Salzpfannen umgeben war. Tuz Gölu, erklärte ihnen Chinua. Der Große Salzsee. Sie schlugen ihr Lager an seinem Ostufer in der Nähe eines uralten Steinturms auf, und am nächsten Morgen ritten sie auf den Resten einer gepflasterten Römerstraße weiter nach Süden. Der See hatte keinen Abfluss, und die Flüsse, die ihn speisten, sickerten von Süden her durch ein verwuchertes Gebiet mit Röhricht und Sumpfarealen ein. Sie ritten weiter über eine Ebene, die an den tiefen Schatten eines Berges endete, den zwei vereiste Kegelspitzen krönten. Die Sonne verwandelte die Hänge in Reliefs, als sie sich auf einer breiten Handelsstraße westwärts wandten. In beiden Richtungen waren Reisende unterwegs, und als das letzte Rosarot des Himmels auf den vereisten Zwillingsgipfeln hinter ihnen verblasste, klapperten die Hufe ihrer Pferde durch das Backsteinportal einer Karawanserei auf der Seidenstraße östlich von Konya.
Sie schliefen in einem Schlafsaal gemeinsam mit anderen Reisenden und waren noch vor dem Hellwerden zurück auf der Straße nach Konya. Zehn Meilen weiter verließen sie die Handelsstraße und bogen Richtung Norden in eine Ebene ab, durch die sie einem pappelgesäumten Flusslauf folgten. Sie kamen an schwarzen Ziegenhaarzelten vorbei und ritten durch Herden von Fettschwanzschafen und struppigen Ziegen, die von Hunden bewacht wurden. Die kristallinen Salzpfannen des Großen Salzsees waren wieder zu sehen, als sich Chinua in seinem Sattel aufrichtete und auf eine Zeltstadt deutete, die sich in der Ebene erhob.
«Suleiman.»
Hero grinste Vallon an. «Wir haben’s geschafft.»
Als die Ansammlung von Zeltkiosken und Pavillons näher kam, überfiel Vallon die Vorahnung eines drohenden Zusammenbruchs. Nachdem er so lange unterwegs gewesen war, hatte er vergessen, dass auch die längste Reise einmal zu Ende gehen muss.
XLVII
Reiter galoppierten aus dem Lager und tauschten mit Chinua einen Schwall Wörter aus. Der Hauptmann erteilte einen Befehl, und bevor Wayland wusste, wie ihm geschah, hatten ihn vier Reiter umzingelt. Einer nahm die Zügel seines Pferdes und zog es im Trab zwischen den Zelten hindurch. Als er einen Blick zurückwarf, sah er, dass die anderen Seldschuken Syth und Caitlin von den Männern getrennt hatten. Seine Eskorte führte ihn zu einer Freifläche in der Mitte der Zeltstadt, die ein halbes Dutzend Zelte umstand, von denen einige durch überdachte Gehwege mit einem enormen goldgelben Pavillon verbunden waren. Sie überquerten die Freifläche und kamen an einen Truppenübungsplatz, auf dem eine Reitergruppe ihre Schulung unterbrach, um sie vorbeireiten zu sehen. Auf der anderen Seite des Platzes hielt Waylands Eskorte vor einem großen Filzzelt und befahl ihm abzusteigen.
Er ließ sich mit dem Falkenkäfig in der Hand aus dem Sattel gleiten. Einer der Soldaten zog das schwere Tuch zur Seite, das die Tür der Jurte bildete, und winkte ihn hinein. Drei Männer standen am gegenüberliegenden Ende des Raumes, und Wayland sah, dass die Jurte als Stallung und Werkstatt genutzt wurde. Die Männer sahen ihm ausdruckslos entgegen. Der in der Mitte hatte einen dünnen Schnurrbart und schrägstehende Augen. Er hätte zwischen fünfzig bis siebzig jedes Alter von sich behaupten können. Die anderen beiden waren wesentlich jünger. An einer Wand befand sich eine Reihe von Nischen, und jede war von einem hellen Falken auf einem gepolsterten Holzblock besetzt. Wayland musterte sie im Vorübergehen. Sie waren nicht viel kleiner als der Gerfalke, aber schlanker gebaut, mit weicherem Gefieder, und sie hatten kürzere Klauen.
Der Falkenmeister bemerkte sein Interesse. «Saqr», sagte er.
«Saker», wiederholte Wayland. Er hatte andere Falkner über diese Falkenart reden hören.
Auf den Hinweis des Falkenmeisters stellte er den Käfig auf einen Tisch, der mit Falknereiutensilien übersät war. Er zog das Tuch weg und streifte seinen Handschuh über.
Die beiden Gesellen runzelten die Stirn. «Tch.»
Er sah auf. «Stimmt etwas nicht?»
Der Falkenmeister bedeutete ihm mit einer Geste weiterzumachen. Der Falke trat auf Waylands Faust, sobald er sie in den Käfig gestreckt hatte. Er hob ihn heraus, und die Gesellen atmeten scharf ein. Die Augen des Falkenmeister verengten sich. Dann sagte er etwas. Einer seiner Gesellen ging zu einem Regal, auf dem etwas lag, das Wayland wie umgedrehte Ledergeldbörsen erschien, die mit Goldfäden bestickt waren. Der Gehilfe wählte zwei dieser Objekte aus und hielt sie dem Falkenmeister hin. Wayland sah, dass Zugbändchen um die Öffnung liefen und auf der Spitze eine kleine Quaste befestigt war. Der Falkenmeister traf seine Wahl und trat dicht vor den Falken. Die Öffnung der Börse nach oben haltend, hob er sie bis dicht an den Kopf des Vogels. Der straffte das Gefieder, doch bevor er beißen konnte, hatte ihm der Falkenmeister das Gebilde in einer einzigen fließenden Bewegung über den Kopf gestülpt. Mit einem weiteren geschickten Handgriff befestigte er die Zugbändchen. Erst da wurde Wayland bewusst, dass die Börse eine Falkenhaube war. Er hatte noch niemals eine gesehen und auch nicht gehört, dass es so etwas gab. Weil er seine Überraschung bemerkte, sah ihn der Falkenmeister fragend an. Wayland schüttelte den Kopf und ahmte nach, wie er dem Falken die Augenlider zunähte. Die Seldschuken zuckten angesichts der Unwissenheit dieses Ungläubigen nur mit den Schultern.