Wayland aber hatte seinen eigenen Plan gemacht, und den Falken auf seine Faust zu zwingen, gehörte nicht dazu. Es war demütigend. Er hatte dem Falken seine Tagesration immer am Stück gegeben. Er war schließlich ein Geschöpf der Wildnis und daran gewöhnt, seinen Hunger uneingeschränkt zu stillen. Futter war das Einzige, was das Tier an ihn band. Wenn dieses Band zerschnitten wurde, würde der Falke beginnen, ihn zu hassen.
«Deine Methode braucht zu viel Zeit. Ich lasse ihn morgen draußen fliegen.»
«Nein!»
«Doch. Nur, wenn er fliegt, kann er seine Muskeln richtig kräftigen. Außerdem muss ich ihn daran gewöhnen, dass er von einem Reiter getragen wird. Und er muss sich an Menschenmengen gewöhnen. Er muss das Terrain kennenlernen.»
Ibrahim fragte, ob Wayland den Falken schon einmal frei hatte fliegen lassen.
«Ja, und auf seinem ersten Flug hat er eine Trappe erlegt.»
Er ließ sich nicht umstimmen, und schließlich gestattete ihm der Falkenmeister, dass der Falke frei fliegen sollte, falls er zuvor Gehorsam bewies, indem er sofort zum Federspiel flog, während er an die Langfessel gebunden war.
Sie warteten bis zum späten Nachmittag. Als sie aus der Stallung kamen, war Wayland erstaunt, von einem Trupp berittener Seldschuken erwartet zu werden, der sie begleiten sollte. Um den Falken einzufangen, falls er wegflog, sagte Ibrahim.
Sie ritten aus dem Lager in westlicher Richtung, bis sie ein kahles Stück Ebene erreichten. Die Eskorte hielt sich abseits zu Pferde, während Wayland abstieg und dem Falken Leine und Drahle abnahm. Der Falkenmeister zog eine Schnur durch die Schlitze in den Geschühriemchen und trug den Vogel etwa dreißig Schritt weit weg. Wayland zog eine lederne Köderleine heraus, die mit Taubenfleisch bestückt war. Ibrahim nahm dem Falken die Haube ab. Der Vogel nickte kurz, flog auf und spannte ein halbes Dutzend Mal die Flügel auf, bevor er zu dem Köder schwebte. Wayland kniete neben ihm, während er fraß, nahm ihn hoch, als er den letzten Bissen schluckte, und setzte ihm die Haube wieder auf. Er löste die Schnur und reichte sie Ibrahim.
«Und jetzt lassen wir ihn fliegen.»
Der Falkenmeister zögerte. Er hatte bemerkt, dass der Falke versucht hatte, mit dem Ködervogel abzuheben. Ihn frei fliegen zu lassen, fand er zu riskant. Er flatterte mit den Fingern Richtung Horizont. Dann zog er eine trübsinnige Miene, deutete auf das Feldlager und fuhr sich mit einem Finger über die Kehle.
«Du meinst, der Emir bringt mich um, wenn ich den Falken verliere.»
Die Pantomime des Falkenmeisters war unmissverständlich.
Wayland blickte über die kahle Ebene, das spärliche, vertrocknete Gras. Er traf einen Entschluss und streckte die Faust vor. «Nimm ihn, bevor es zu dunkel zum Fliegen ist.»
Dieses Mal ging der Falkenmeister hundert Schritt weit weg, bevor er dem Falken die Haube abnahm. Wayland erkannte, dass sich der Vogel anders verhielt als zuvor. Nachdem das Tier festgestellt hatte, wo es war, begann es sich umzusehen. Der Himmel war leer, die Hochebene verlassen, und doch hatte der Falke etwas erblickt, was nur er sehen konnte, und er hob ab und flog mit klatschenden Flügeln davon.
Ein Ruf des Falkenmeisters, und die Seldschuken galoppierten dem Vogel nach.
Es war beinahe dunkel, als Wayland zu ihnen aufholte. Ein Reiterkrieger trabte aus der Dämmerung und deutete hinter sich auf eine Erhebung. Wayland gab ihm die Zügel seines Pferdes und ging zu Fuß weiter. Dabei sprach er vor sich hin, um sein Auftauchen anzukündigen, damit der Falke nicht erschrak. Der Vogel hatte sich auf einem nur hüfthohen Felsen niedergelassen und starrte nach Norden. Als er sich zu Wayland umdrehte, war es, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.
Fuß um Fuß schob sich Wayland näher an den Falken heran. Der Vogel schien in einem Traum versunken und nahm erst Notiz von ihm, als Wayland ihm einen Brocken Fleisch vor die Füße legte. Der Falke zog die Schultern hoch, und Wayland umschloss die Geschühriemchen im letzten Moment mit der Hand, bevor der Vogel abhob. Seine Finger zitterten, als er die Leine befestigte. Er wusste, was für ein Glück er gehabt hatte. Ohne die Seldschuken hätte er den Falken niemals vorm Dunkelwerden gefunden. Und auf diesem Felsen als Schlafplatz wäre der Vogel für Wölfe und Schakale zur leichten Beute geworden. Selbst wenn er bis zum Morgen überlebt hätte, wäre ein Gutteil des Übungserfolges dahin gewesen.
Niedergeschlagen kehrte er zurück, um sich den Tadel des Falkenmeisters abzuholen. Doch Ibrahim sagte nur, er solle dem Falken die Rationen kürzen, weil ein Wildvogel den Hunger vergisst, wenn er den Wind wieder unter den Schwingen spürt. «Gib dem Falken morgen nichts zu fressen und lass ihn auch nicht fliegen», ordnete er an.
«Ich kann mir keinen Tag Pause leisten», sagte Wayland. «Die Reiter haben ihn irritiert. Morgen gehe ich allein mit ihm hinaus.»
Am nächsten Morgen machte er sich auf die Suche nach Syth. Sie und Caitlin waren in einem Haremszelt untergebracht, das durch einen überdachten Gang mit dem Pavillon des Emirs verbunden war. Eine stämmige Frau, die von Kopf bis Fuß verhüllt war, kam zum Eingang und musterte Wayland durch den Sehschlitz in ihrem Gesichtsschleier. Er fragte, ob er Syth sehen könne. Sie ging weg, und kurz darauf erschien eine andere Frau, die in ein fließendes Seidengewand gehüllt war, das sich eng an Brüste und Hüften schmiegte und so ihre schlanke und wohlgestaltete Figur betonte. Ein Tuch bedeckte ihr Haar, und sie hielt ein Ende dieses Tuchs vor ihre untere Gesichtshälfte, sodass Wayland nur ihre schwarz umrandeten Augen sehen konnte.
Ihm war in der Gegenwart dieser exotischen Maid höchst unbehaglich zumute. «Ich möchte zu Syth», murmelte er.
«Erzähl mir nicht, dass du so schnell vergessen hast, wie ich aussehe.»
«Syth! Ich habe dich nicht erkannt. Was hast du da für schwarzes Zeug um die Augen?»
«Das heißt Kajal. Gefällt es dir nicht? Wo warst du die ganze Zeit?»
«Ich muss den Falken für den Wettkampf vorbereiten. Deshalb bin ich hier. Ich brauche deine Hilfe.»
«Ist das der einzige Grund, aus dem du gekommen bist?»
«Natürlich nicht. Du hast mir gefehlt.»
«Und wie du mir erst gefehlt hast! Warum bist du nicht früher gekommen?»
«Es tut mir leid. Die ersten beiden Nächte habe ich praktisch gar nicht geschlafen, und tagsüber war ich mit dem Falken beschäftigt.»
Sie warf einen Blick über die Schulter. «Ich muss um Erlaubnis bitten.»
Während Syth verschwunden war, bewachte die stämmige, verhüllte Matrone den Eingang und musterte ihn mit finsteren Blicken. Eine Bewegung in ihrem Rücken brachte sie dazu, sich umzudrehen. Syth flog förmlich auf Wayland zu, Gesicht und Haare bedeckt und in enge Beinhosen und einen wattierten Wickelmantel gekleidet. Die Frau schrie auf und versuchte, nach Syth zu greifen, doch die duckte sich weg. Wayland wollte sie an der Hand nehmen, aber Syth schlug seinen Arm zur Seite.
«Keine Berührungen im Lager.»
Sie ritten mit dem Falken zu der öden Region der Ebene, wo er am Vortag geflogen war. Immer wieder warf Wayland Seitenblicke auf Syth. Drei Tage Abwesenheit hatten eine Fremde aus ihr gemacht. Sie schien erwachsener geworden. Erwachsener als er selbst.
«Kann ich dich schon berühren?»
Sie lachte und zog den Schal von ihrem Gesicht. Sie hatte den Kajal abgewaschen, und ihre Wangen waren so rosig, wie er sie kannte. Sie ritt neben ihn und erlaubte Wayland, sie zu küssen. Sie roch nach Moschus und Rosen.
Mit dem Finger streichelte sie ihm über die Wange. «Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wusste nicht, ob du in Sicherheit bist, bevor Vallon es mir versichert hat, als er zu Besuch bei Caitlin war.»
«Wie geht es ihr?»
Syth lachte. «Sie lässt sich nur allzu gern verwöhnen. Du solltest sie in ihren neuen Gewändern und mit all dem Schmuck sehen. Sie ist betörend.» Syth bemerkte, dass Wayland den Mund verzog. «Grins nicht so hässlich. Ich mag Caitlin. Sie kennt sich mit Männern gut aus. Aber keine Sorge, dich schätzt sie sehr.»