«Wo sind die Dokumente?»
«Wo niemand außer mir sie finden kann. Und jetzt zieh mich aus diesem stinkenden Loch.»
Walter war inzwischen bis zur Brust eingesunken. Rufe wurden vom Wind herangetragen. Ein Flammenschein blitzte durchs Röhricht.
«Hilfe!», schrie Walter. «Zu Hilfe!»
Die Rufe kamen näher. Fackeln leuchteten.
«Oh, Gott sei gedankt», keuchte Walter. Er hörte auf zu kämpfen. «Jetzt wirst du für deinen Verrat bezahlen. Was ich mit deiner Familie gemacht habe, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich mir für dich einfallen lasse.»
Vier Gestalten tauchten im Röhricht auf.
«Wayland?», rief Vallon.
«Er hat mich in ein Sumpfloch geführt!», schrie Walter. «Er wollte mich umbringen. Um der Liebe Christi willen, helft mir!»
Vallon ging auf Wayland zu, dicht gefolgt von Hero. Die beiden anderen Männer waren Seldschuken, die Stangen und ein Seil dabeihatten. Sie erfassten die Lage und entrollten das Seil.
«Bewegt Euch nicht», sagte Vallon zu Walter. «Wir ziehen Euch heraus.»
«Oh, Gott sei Dank!»
Hero schob sich vor. «Wo ist das Evangelium?»
Vallon versetzte ihm einen Klaps.
«Dieser Mann ist in Lebensgefahr.»
«Er wird es in keiner anderen Situation preisgeben. Wenn er erst einmal in Sicherheit ist, wird er sich gegen uns wenden. Walter, sagt uns, wo Ihr die Dokumente versteckt habt.»
«Schwört Ihr, mich zu retten?»
«Ihr verschwendet wertvolle Zeit», sagte Vallon. «Gewiss werden wir Euch retten.»
«Sie sind in einer Römerbastion am Ostufer des Salzsees. Jetzt beeilt Euch!»
«Wir hatten in der Nähe dieser Festung unser Lager aufgeschlagen. Wo genau finden wir das Evangelium?»
«Ganz oben an der Treppe des Turms. Hinter einem Stein, in den ein Löwe gemeißelt ist. Beeilt Euch, bevor es zu spät ist!»
Vallon befahl den Seldschuken, Walter das Seil zuzuwerfen. «Greift vorsichtig danach. Vermeidet jede Bewegung, die nicht unbedingt notwendig ist.»
Walter klammerte sich an das Seil. Vallon, Hero und die beiden Seldschuken zogen. Vallon drehte sich zu Wayland um. «Hilf uns.»
Sie zerrten und keuchten, bis ihnen der Schweiß auf der Stirn stand. Jedes Mal, wenn sie sich in das Seil hängten, wurde Walter um einen halben Fuß hochgezogen, doch all ihre Anstrengungen genügten nicht, um ihn dem saugenden Griff des Moors zu entwinden.
«Zieht Euer Kettenhemd aus», rief Vallon. «Ohne die Rüstung sinkt Ihr nicht.»
Walter krallte sich eiskalten und schlammverschmierten Fingern in die schlüpfrigen Kettenglieder. «Ich schaffe es nicht. Ich werde bei jeder Bewegung tiefer hinabgezogen.»
«Schickt einen der Seldschuken los, um Verstärkung zu holen», sagte Hero.
Vallon wischte sich über die Stirn. «Das hat keinen Sinn. Wir bräuchten schon ein paar Pferde, um ihn herauszuziehen, und die Zugkräfte würden ihn in der Mitte durchreißen.» Er hob den Kopf. «Walter, Ihr müsst den Sog mindern. Rudert mit den Beinen.»
Walter war bis zu den Schultern eingesunken. «Ich spüre sie nicht mehr», wimmerte er.
Vallon packte erneut das Seil. «Noch einmal mit aller Kraft!»
Sie zogen zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Da gab es ein platzendes Geräusch, und das Seil verlor seine Spannung, sodass sie alle rückwärts taumelten.
«Meine Schulter!», schrie Walter.
Vallon rappelte sich auf. Er warf Walter das Seil zu. «Haltet Euch fest. Wir können zumindest verhindern, dass Ihr untergeht.» Und zu Hero sagte er: «Schick einen von den Seldschuken los, damit er ein paar Männer mit Leitern holt.»
«Er erfriert, bevor sie hier sein können.»
Walter tastete mit der linken Hand nach dem Seil. Seine Finger schlossen sich darum. Als Vallon daran zog, rutschte es Walter durch die Finger.
«Ich kann es nicht mehr festhalten. Ich habe alles Gefühl in der Hand verloren.»
Der Sumpf stand nun oberhalb seiner Schultern. Vallon beugte sich mit den Händen auf den Knien so weit wie möglich zu Walter hinüber. «Walter, es gibt nichts mehr, das wir für Euch tun können. Macht Euren Frieden mit Eurem Schöpfer.»
Der Morast hatte Walters Kinn erreicht. «O heilige Mutter Gottes, steh mir bei in der Stunde der Not. O gnädige Mutter Gottes …» Mit einem Schluchzen brach er ab.
Voller Grauen sahen sie zu, wie Walter noch ein Stückchen tiefer sank.
«Was für eine schreckliche Art zu sterben», sagte dieser mit seltsam unbeteiligter Stimme. Dann rief er den Seldschuken etwas auf Türkisch zu. «Ich habe ihnen erzählt, was hier passiert ist. Der Emir wird Euch für Eure Verbrechen bezahlen lassen.» Seine Stimme wurde zu einem Kreischen. «Fluch über dich, Wayland! Ich verfluche dich, weil du mich hierhergebracht hast. Und ich verfluche Drogo! Ich warte in der Hölle auf euch!»
Wasser lief in seinen Mund und aus seinem letzten Fluch wurde ein gurgelnder Schrei. Wayland überlief ein Schauer, doch dann dachte er an seine Familie, die in ihrem Heim niedergemetzelt worden war, und er bedauerte sein Verbrechen nicht. Blasen stiegen von Walters Mund auf. Er bäumte sich auf, als das Wasser über seine Nase stieg. Doch dann sank er wieder tiefer, und noch mehr Luftblasen zerplatzten an der Oberfläche des Sumpflochs. Seine Augen starrten sie immer noch an, rollten vor Entsetzen in ihren Höhlen, dann wurden sie starr, und sein Blick brach. Schließlich versanken auch die Augen, langsam gefolgt vom ganzen Kopf. Noch ein letztes Mal bebte der schwammige Morast, dann lag er still und ruhig vor ihnen.
Vallon hatte sich auf ein Knie niedergelassen. Er warf einen Blick über die Schulter. «Ist das wahr? Hast du ihn in den Tod geführt?»
«Er hat meine Familie abgeschlachtet. Vater, Mutter, Bruder und Schwester, Großvater … Er hat die Frauen geschändet und ihnen die Kehlen durchgeschnitten.»
Vallon sah ihn lange an. «Deshalb bist du also mit uns gekommen. Ich bin mit dir ausgezogen, um Walter zu retten, und du hattest vor, ihn zu töten.»
«Nur am Anfang. Aber als ich Syth begegnet war und als ich gesehen habe, wie ritterlich Ihr uns auf unserer Reise angeführt habt, habe ich geschworen, meinen Hass zu begraben. Ich habe nicht einmal Syth erzählt, was Walter getan hat. Aber dann hat er gedroht, mich umzubringen. Er hat sich an der Vorstellung geweidet. Ich weiß, dass mich der Emir wahrscheinlich hinrichten lässt, weil ich seine Befehle nicht befolgt habe. Ich weiß, dass ich das Kind nicht sehen werde, das Syth trägt. Walter ist mir in den Sumpf gefolgt, und alles, was ich noch hatte, war mein Hass. Und trotzdem habe ich ihm noch einen Chance gegeben. Ich hätte versucht, ihn zu retten, wenn er nur seine Verbrechen gestanden und bereut hätte.»
Vallon richtete sich mit einem erschöpften Seufzer auf. «Die Seldschuken wissen nicht genau, was passiert ist. Wir sagen dem Emir, es war ein Unfall. Wenigstens hast du den Falken wiedergefunden. Das könnte dazu beitragen, seinen Zorn zu beschwichtigen.»
Da brach Wayland zusammen. Es war nicht die Angst vor Suleimans Bestrafung, die ihn überwältigte. Es war die Anspannung, die in ihm angestiegen war, seit ihm der Zufall eine Gelegenheit verschafft hatte, Walter zu töten. Und es war die Verzweiflung bei dem Gedanken an das, was mit Syth geschehen würde.
Hero legte ihm den Arm um die Schulter. «Komm. Bleiben wir nicht länger an diesem grauenhaften Ort.»
Sie suchten sich einen Weg aus dem Sumpfgebiet. Etwa zwanzig Männer hatten unter züngelnden Fackeln mit dem Emir gewartet. Suleiman ritt vorgebeugt und mit bösartigem Gesichtsausdruck auf sie zu. Vallon trat mit Hero vor Wayland und bat für ihn um Gnade. Ein halbes Dutzend Seldschuken trieb sie mit ihren Schwertspitzen aus dem Weg. Der Emir blieb vor Wayland stehen und erteilte einen Befehl. Ibrahim näherte sich. Aus seinem mitleidigen Gesichtsausdruck konnte Wayland schließen, dass der Emir keine Gnade zeigen würde. Ibrahim nahm Wayland den Falken ab, der dem Emir mit der anderen Hand die Taube entgegnen hielt. Suleiman schleuderte sie zu Boden.