«Wenn du dir das Genick brichst, verzeihe ich es dir niemals.»
Hero lachte. «Wartet, bis ich meine Lampe wieder angezündet habe.» Er entzündete die Flamme neu und sah, dass er beinahe das gesamte Öl verschüttet hatte. Er spähte nach oben. «Das war das schlimmste Stück. Die Stufen weiter oben sehen ganz gut aus.»
Mit angstfeuchten Handflächen stieg er weiter auf. Eine kurze Bewegung ließ ihn zusammenzucken, doch es war nur eine Fledermaus, die durch das Licht seiner Lampe ihre unsteten Bahnen zog. Dann hatte er die oberste Treppenstufe erreicht und fand sich auf den Überresten eines Umgangs wieder. Die ersten hellen Abendsterne blinkten durch die Löcher im Dach. Er schob sich den Rundgang entlang und bewegte dabei seine Lampe vor der Wand auf und ab. Ein Stein, in den ein Löwe gemeißelt war, hatte Walter gesagt. Die Flamme war zu kümmerlich, um irgendwelche Einzelheiten zu beleuchten, die weiter als zwei Fuß von ihr entfernt waren. Dann kam Hero an eine Abbruchlücke in dem Rundgang und hielt die Lampe so weit darüber, wie er es nur wagte. Ein Stein kollerte in die Dunkelheit hinab.
«Hero?»
«Ich kann nichts sehen. Das Licht ist erbärmlich.»
«Morgen früh sage ich Broke, dass ich zu krank zum Weiterreiten bin. Dann hast du genügend Zeit, bei Tageslicht zu suchen.»
«Ich weiß nicht, ob ich noch einmal den Mut aufbringe, hier hochzusteigen.»
Hero arbeitete sich zum Anfang der Treppe zurück, ohne den verzierten Stein zu finden. Er setzte sich auf die oberste Stufe, stellte die Lampe neben sich und zischte ärgerlich vor sich hin. Das Evangelium musste in seiner Nähe sein, wahrscheinlich nur eine Armeslänge entfernt.
Die Lampe flackerte, und die Flamme wurde schwächer, die Schatten wurden tiefer. Vorsichtig kippte Hero die Lampe und hielt den Atem an, bis die Flamme wieder heller emporwuchs. Mit einem erleichterten Seufzer sah er auf, und in demselben Moment wurde ihm mit Verzögerung bewusst, was er gerade gesehen hatte. Stirnrunzelnd glitt er auf die nächste Stufe hinunter und fuhr mit der Hand über einen Stein in Kniehöhe. Dann holte er sich die Lampe heran und erkannte das gemeißelte Relief einer Löwengestalt, die aufgerichtet auf einer Kugel stand, um die sich Schlangen wanden – Mithras, der persische Sonnengott, den die Römer in ihren Götterkreis aufgenommen hatten.
Vallon schlug einen Flintstein an. Ein Lichtteich breitete sich in der Dunkelheit unter Hero aus.
«Ich habe den Stein gefunden.»
«Gut. Nimm die Dokumente, und dann raus hier. Dieser Turm macht mich verrückt.»
Der Stein gehörte nicht zum ursprünglichen Bau. Walter hatte ihn ohne Mörtel in die Wand eingesetzt, und die Spalten darum waren für Heros Finger breit genug. Ohne Schwierigkeiten zog er den Stein heraus und blickte in eine tiefe Höhlung. Er griff hinein und berührte etwas Glattes und Kaltes. Aufkeuchend zog er die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt.
«Was ist?»
«Da ist etwas in der Nische … ich habe ein scheußliches Gefühl …»
Er hob die Lampe an die Maueröffnung und legte den Kopf schräg, sodass er hineinsehen konnte. Träge, schwarze Augen erwiderten seinen Blick.
«Hero, was ist los?»
«Da drin ist eine Schlange.»
«Gott!»
«Sie hat sich auf einem Päckchen zusammengerollt.»
«Was für eine Schlange?»
«Eine Viper. Ich glaube, sie hält Winterschlaf.»
«Töte sie und mach, dass du hier runterkommst. Sofort.»
Hero musterte die Viper. Der Kopf ruhte auf ihrem zusammengerollten Körper, und ihr Blick aus den senkrechten Pupillenschlitzen der lidlosen Augen war eiskalt. Hero zog sein Messer und bewegte es auf die Schlange zu. Sie rührte sich nicht. Hero berührte sie vorsichtig mit dem Messer, und träge bewegte sie sich ein wenig. Erschauernd schob er das Messer hinter die Schlange und zog sie damit auf sich zu. Da züngelte sie und begann sich zu entrollen. Mit einem Ruck zerrte er sie aus dem Loch, und sie zischte. Hero unterdrückte einen Schrei und trat das Tier mit dem Fuß über die Treppenstufe in die Tiefe. Es traf mit einem satten Klatschen auf dem Boden auf.
«Die habe ich erledigt.»
«Das verdammte Ding ist mir beinahe auf den Kopf gefallen.»
Als Hero in die Höhlung griff, wurde ihm bewusst, dass dort, wo eine Schlange überwinterte, womöglich auch noch andere waren. Seine Lampe machte ein paar schwache, ploppende Geräusche, und die Flamme sank um den Docht zusammen. Bevor sie ganz ausging, griff sich Hero das Päckchen und drückte es an die Brust.
«Hero?»
«Ich habe es.»
«Gott sei Dank. Sei vorsichtig, wenn du heruntersteigst.»
Hero schob das Päckchen unter sein Gewand. Weil er in der Dunkelheit zu unsicher war, schob er sich die Treppe auf dem Bauch hinunter. Stufe für Stufe – wie ein Kleinkind. Vallon hielt seine eigene Lampe hoch, sein Schatten fiel riesenhaft auf die Wände. Hero kam an die Stelle, an der die Stufen herausgebrochen waren, und scharrte mit den Füßen in dem Geröll. Steinchen und Mörtelstücke polterten über die Schräge.
«Du musst ganz schnell darüberlaufen», sagte Vallon.
Hero lief los, spürte, wie er ausrutschte und in die Leere fiel. Ein langer Augenblick der Schwerelosigkeit, dann folgte ein schwerer Aufprall, der ihm Sterne und Erinnerungsbruchstücke durch den Kopf wirbeln ließ.
«Hero, bist du verletzt?»
Er setzte sich stöhnend auf und bewegte vorsichtig seine Glieder. «Ich glaube, nicht. Aber ich kann mich auf einmal an etwas, das passiert ist, als ich drei Jahre alt war, so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen. Da haben mich nämlich zwei von meinen Schwestern die Treppe hinunterkugeln lassen.»
«Wenn von deinem Verstand noch etwas übrig ist, dann benutz ihn, um aus diesem Turm zu verschwinden.»
Hero tastete nach dem Päckchen. Er kam schwankend auf die Füße und stolperte auf den Bogendurchgang zu. Vallon packte ihn am Handgelenk und zog ihn ins Freie. «Hast du es noch?»
Langsam wurde Heros Kopf wieder klarer. Die Ufer des Sees lagen bleich im Mondlicht. Funken stoben vom Lagerfeuer der Seldschuken auf. Er klopfte sich auf die Brust und nickte.
Sie humpelten zu ihrem Lagerplatz. Vallon schleppte sich wie ein Mann mit Holzbein auf seiner Krücke dahin. Stöhnend ließ er sich nieder, und Hero legte ihm eine Decke um die Schultern, bevor er das Lagerfeuer entfachte. Knisternd fraßen sich die Flammen durch die Gestrüppzweige. Sie rückten nahe an die Wärme, und Hero stellte einen Topf Reis auf das Feuer. Vallon stieß einen leisen Pfiff aus und zog die Schultern hoch. «Gott, ist das kalt.»
Hero tastete immer wieder nach dem Päckchen unter seinem Gewand.
«Willst du es dir nicht ansehen?», fragte Vallon.
«Glaubt Ihr nicht, wir sollten damit warten, bis wir nicht mehr auf Seldschukengebiet sind?»
Vallon sah zum Lagerfeuer ihrer Eskorte hinüber. «Boke kann weder lesen noch schreiben. Die Dokumente sagen ihm gar nichts. Sehen wir uns an, was wir haben.»
Hero zog das Päckchen hervor und wickelte es aus. Darin befanden sich zwei Dokumente, das eine ein Brief, das andere ein Kodex im Buchformat. Er nahm zuerst den Brief heraus. «Es ist aus demselben Material wie der Brief von Priester Johannes, und es ist dieselbe Schrift.»
«Was steht drin?»
Hero kniff die Augen zusammen. «Hier ist eine Beschreibung der Wüste, die Reisende durchqueren müssen, bevor sie zu seinem Reich kommen: Dort ist ein wasserloser See, und seine Wellen sind aus Sand, die sich zu niemals ruhenden Wogen auftürmen. In dieser Wüste hausen viele Kobolde und Dämonen. Drei Tage von dem Sandmeer entfernt müsst Ihr einen wasserlosen Fluss voller Steine hinaufgehen …»
«Und was ist mit dem Evangelium? Das interessiert mich viel mehr.»
Hero versteckte den Brief im Geheimfach seines Kastens und öffnete das Buch. «Es ist in Altgriechisch auf Papyrus geschrieben.»
«Lies vor.»