Vallons düsterer Blick blieb starr geradeaus gerichtet. «Wir haben eine Abmachung getroffen. Wenn wir das Evangelium gefunden hätten, wäre ich zurückgekehrt. Aber wir haben es nicht, also ziehe ich weiter.»
«Sie will aber vielleicht nicht an Suleimans Hof bleiben.»
«Sie hat genügend Silber, um in aller Bequemlichkeit nach Konstantinopel zu gelangen.» Vallon wedelte mit der unverletzten Hand. «Vergiss Caitlin.»
Darauf ritt Hero schweigend neben Vallon dahin. Es war wieder ein schöner Tag, ein wolkenloser Porzellanhimmel wölbte sich über den blendend weißen Salzpfannen. Flamingos schwärmten wie Zeilen rosafarbener Schriftzeichen über den Salzsee. Vallon trabte weiter und war sich der Seitenblicke Heros sehr bewusst. «Ich habe gesagt, ich will kein Wort mehr darüber hören.»
«Ich denke nicht an Caitlin.»
«Woran sonst?»
«Ich habe an das Evangelium gedacht.»
Vallon stieß ein galliges Lachen aus. «Ich auch.»
«Nein, nicht auf diese Art.» Hero zögerte. «Ich weiß nicht, ob Ihr hören wollt, was ich denke.»
«Diesen Verlust kannst du nicht mehr schlimmer machen.»
Hero atmete tief ein, und dann sprach er es einfach aus. «Ich glaube nicht, dass wir es hätten verkaufen können. Und zwar, weil niemand aus der Kirche es kaufen würde.»
Vallon starrte ihn an. «Du hast mir selbst gesagt, es sei eines der wichtigsten Bücher, die je geschrieben wurden.»
«Aber wichtig aus den falschen Gründen. Wenn es jemand kaufen würde, dann nur, um es zu geheim zu halten. Oder um es zu zerstören.»
«Den Bericht eines Apostels geheim halten? Ein Stück der Bibel zerstören?»
«Die Bibel ist das Wort Gottes, aber die Kirche entscheidet, welche Worte die Welt hören soll. Ich habe über die Passagen des Thomasevangeliums nachgedacht, die ich lesen konnte, und bin zu dem Schluss gekommen, dass die obersten Kirchenherren ihrer Glaubensgemeinschaft diesen Text vorenthalten würden.»
«Und warum?»
«Erstens erklären alle vier kanonischen Evangelien, dass Jesus der Sohn eines bescheidenen Zimmermanns war, und Lukas sagt, er habe dieses Handwerk auch selbst ausgeübt. Keiner von ihnen spricht über die Kindheit oder die Erziehung Jesu. Sie müssen etwas über sein Leben in jungen Jahren gewusst haben, aber sie haben sich dafür entschieden, es zu verschleiern. Nicht aber Thomas. Er sagt, Jesus sei der Sohn eines tekton gewesen, eines Baumeisters oder Architekten, der außerdem die Thora unterrichtete, und dass Jesus in jüdischem Recht ausgebildet worden sei und ein angesehener Rabbi wurde.»
Vallon zuckte zusammen, als sein linker Fuß heftig gegen die Flanke des Pferdes stieß. «Willst du damit sagen, dass Thomas ein Lügner und sein Evangelium eine Fälschung war?»
«Nein. Ehrlich gesagt finde ich seine Version überzeugender als die anderen. Erinnert Ihr Euch an den Bericht von Lukas? Darüber, dass Jesus seinen Eltern als Zwölfjähriger einmal in Jerusalem verlorenging? Nach fünf Tagen haben sie ihn im Tempel wiedergefunden, wo er die Gelehrten mit seinem Wissen über religiöse Themen zum Staunen brachte. Die Ältesten hätten so ein Wunderkind ganz bestimmt in ihre Schulen geholt und es als zukünftigen religiösen Führer angesehen. Und an anderen Stellen der Evangelien wird Jesus oft ‹Rabbi› oder ‹Rechtsgelehrter› genannt. Weithin respektierte jüdische Gelehrte kamen, um ihn predigen zu hören. Das hätten sie bei einem Zimmermann nicht gemacht.»
«Ich verstehe nicht, warum die Kirche ein Evangelium ablehnen sollte, das behauptet, Jesus wäre ein bedeutender Weiser und Lehrer gewesen.»
«Das ist nicht der einzige Aspekt, in dem es von den Berichten der Bibel abweicht. Thomas nennt Jesus ‹den Menschensohn› statt ‹den Gottessohn›. Das ist ein wichtiger Unterschied, einer, der den Glauben bedroht, Jesus sei wahrhaft göttlicher Abstammung gewesen. Und noch etwas. Thomas bezeichnet Jesus als chrêstos, mit einem ê geschrieben, und nicht als christos mit einem i. Die beiden Wörter werden gleich ausgesprochen, aber sie haben verschiedene Bedeutungen. Christos mit einem i bedeutet ‹der Gesalbte› – der Messias, den Gott gesandt hat, um die Wiederkunft des Herrn zu verkünden. Chrêstos mit einem ê bedeutet einfach ‹gut›.»
«Woher weißt du das alles?»
«Einer meiner Onkel ist Priester. Eine Zeitlang war ich für ein Leben als Geistlicher vorgesehen.»
«Ich bin zwar kein Gelehrter, aber mir kommt es so vor, als würdest du Haarspalterei betreiben.»
Hero schwieg einen Moment, bevor er weitersprach.
«Das tun Theologen eben. Sie haben es schon seit tausend Jahren getan, und das Ergebnis ist der Glaube, wie er heute ausgeübt wird, bis hin zur winzigsten liturgischen Kleinigkeit. Alles, was nicht in die offizielle Version passt, hat im Kanon keinen Platz. Das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel ist ein gutes Beispiel dafür. Wisst Ihr, wodurch es ausgelöst wurde?»
Vallon dachte nach. «Ich habe keine Ahnung.»
«Im Hinblick auf die Doktrin ist der Hauptstreitpunkt ein einzelnes Wort, filioque, das die römisch-katholische Kirche in das nicänische Glaubensbekenntnis eingefügt hat. Es bedeutet, ‹und dem Sohn› und es taucht in dem Abschnitt auf: ‹Und ich glaube an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.› Was durch diesen Zusatz unterstrichen wird, ist, dass Jesus, dem Sohn, die gleiche Göttlichkeit zugesprochen wird wie Gott, dem Vater. Die Ostkirche will diesen Zusatz nicht akzeptieren, weil sie auf der Vorrangstellung von Gott, dem Vater, besteht. Sie streiten schon seit fünfhundert Jahren über dieses Wort.»
«Die Kirche hört also nur, was sie hören will.»
«So ist es. Die Kirchenväter verlangen ja schon einen Berg klarer, unumstößlicher Argumente, wenn in den anerkannten Evangelien auch nur ein Punkt geändert werden soll. Ein Buch, das Abenteurer in Anatolien entdeckt haben, würde ihnen ganz bestimmt nicht als Beweis für die Echtheit des Thomasevangeliums reichen.»
«Rom vielleicht nicht. Die griechisch-orthodoxe Kirche könnte aufgeschlossener sein.»
Hero schüttelte den Kopf. «Auch wenn sie sich streiten, beide Kirchen würden jedes Buch, in dem das Menschsein Jesu betont wird, als verabscheuungswürdige Häresie betrachten.»
«Das heißt, dass wir, wenn wir das Evangelium noch hätten und versuchen würden, es zu verkaufen, dafür auf dem Scheiterhaufen landen könnten.»
«Ich weiß nicht, ob sie so weit gehen würden. Aber das Evangelium würden sie wahrscheinlich verbrennen.»
Eine Zeitlang ritt Vallon schweigend weiter. «Hero, wenn das als Trost für mich gemeint war, hat es nicht funktioniert.»
«Ich dachte nur, Ihr solltet es wissen.»
«Du hast nur ein paar Abschnitte gelesen. Cosmas hatte Gelegenheit, sich das ganze Buch in aller Ruhe anzusehen. Er war ein hochgebildeter Mann. Ihm müssen dieselben Zweifel gekommen sein wir dir, und das hat seinem Wunsch, das Buch in die Hände zu bekommen, trotzdem keinen Abbruch getan.»
«Cosmas hat vor allem anderen nach der Wahrheit gestrebt. Vielleicht hat ihm Thomas etwas offenbart, das die ganze Christenheit bis in die Grundfesten erschüttern würde.»
«So etwas wie die Geheimnisse, von denen Thomas sagt, sie würden Steine zum Brennen bringen.»
«Möglich. Oder etwas anderes, zum Beispiel eine Offenbarung, die Jesu Tod und Auferstehung betrifft.»
«Und wie sollte die lauten?»
«Ich weiß nicht, ob ich es aussprechen soll. Es ist blasphemisch.»
«Mach dir keine Sorgen um mein Seelenheil. Komm schon, heraus damit.»
«Also gut.» Hero sammelte sich kurz. «Einige Quellen sagen, dass Thomas in Indien evangelisiert und an der Küste viele Menschen bekehrt hat. Cosmas hat einige der Gemeinden dort besucht, auch den Thomas-Schrein in der Nähe der indischen Stadt Madras. Die Christen dort nennen sich ‹Thomaschristen›, aber Cosmas hat mir erklärt, dass sie zu einer nestorianischen Sekte gehören.»