Er hatte weniger als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als sich die Wolken endgültig vor die Sonne schoben. Schlagartig wurde es kälter. Ein Wind, der als fernes Seufzen angehoben hatte, peitschte ihm nun Hagel ins Gesicht. Das Kinn auf die Brust gedrückt kämpfte er gegen den Sturm. Der Hagel wurde zu Schnee, der Tag wurde zur Nacht. Er kam vom Weg ab, stolperte über Felsgestein und quälte sich durch Schneeverwehungen.
Schließlich erreichte er flacheres Gelände, und ein Hauch Feuerrauch zog an ihm vorbei. Also musste er auf der windabwärts gelegenen Seite der Sommerweide sein und die Talschlucht zu seiner Linken haben. Er bewegte sich vorsichtig weiter, ertastete mit dem Schwert, was vor ihm lag, bis eine dunkle, massige Erhebung seinen Weg blockierte. Es war eine halb eingeschneite Hütte. Er schob sich an ihren Außenwänden entlang, bis er auf der windabgewandten Seite die Tür fand. Mit einem Fußtritt öffnete er sie und stolperte in einen vollkommen verräucherten Raum.
Auf der anderen Seite des Feuers sprang eine Gestalt auf. «Bitte, tut uns nichts!»
Vallon machte einen schlaksigen Jüngling mit wildem Blick aus. Im Feuerschein hinter ihm regte sich eine weitere Gestalt in unruhigem Schlaf. «Beruhige dich», knurrte Vallon und schob sein Schwert in die Scheide. Er drückte die Tür zu, klopfte sich den Schnee von den Gewändern und kauerte sich vor das Feuer.
«Ich bitte Euch inständig um Verzeihung», stammelte der Jüngling. «Meine Sorge lässt mich nicht klar denken. Dieses Unwetter …»
Die Gestalt in der Ecke murmelte etwas in einer Sprache, die Vallon nicht verstand. Der Jüngling hastete zu dem Lager.
Vallon legte Dungstücke aufs Feuer und massierte sich die vor Kälte starren Hände. Dann zog er sich an die Wand zurück und nagte an einem Brotkanten. Rauchfäden umrankten die Lampe drüben in der Nische. Der Mann auf dem Lager schlief nicht. Seine Brust pfiff wie ein undichter Blasebalg.
Vallon trank einen Schluck Wein, der Geschmack ließ ihn leicht zusammenzucken. «Dein Gefährte ist krank.»
In den Augen des jungen Mannes schimmerte es feucht. «Der Meister stirbt.»
Vallon hörte auf zu kauen. «Es ist doch nicht die Pest, oder?»
«Nein, Herr. Ich glaube, ein Geschwür sitzt in seiner Brust. Der Meister kränkelt schon, seit wir Rom verlassen haben. Heute Morgen war er zu schwach, um auf sein Maultier zu steigen. Unsere Reisegefährten mussten uns zurücklassen. Mein Meister beharrte trotzdem darauf, dass wir weiterziehen, aber dann hat uns der Sturm eingeholt, und unser Knecht ist uns davongelaufen.»
Vallon spie den sauren Wein aus und ging zu den beiden hinüber. Kein Zweifel, der alte Mann würde noch vor dem Morgengrauen von allen irdischen Sorgen befreit sein. Doch welches Leben war in seine Züge eingeschrieben – die Haut spannte sich straff über breite Wangenknochen, er hatte die Adlernase eines anspruchsvollen Edelmanns, ein dunkles Auge blickte verschleiert, das andere war nur noch eine Narbenhöhle. Seine Gewänder erzählten von Abenteuern in der Fremde – der seidene Mantel besaß Verschlüsse aus Elfenbeinknebeln, die Pluderhosen steckten in Stiefeln aus Ziegenleder, ein Zobelumhang lag um seine Schultern, der noch kostspieliger gewesen sein musste als der Ring, der an seiner knochigen Hand glitzerte.
Der Blick aus dem dunklen Auge wanderte zu ihm. Die schmalen Lippen öffneten sich. «Du bist gekommen.»
Vallons Nackenhaare stellten sich auf. Der Alte musste glauben, der Geist des Todes sei erschienen, um ihn durch die letzte Pforte zu geleiten. «Ihr täuscht Euch. Ich bin nur ein Reisender, der vor dem Sturm Schutz gesucht hat.»
Der sterbende Mann nahm es zur Kenntnis. «Ein Pilger auf dem Weg nach Jerusalem.»
«Ich reise nach Konstantinopel, um in die kaiserliche Leibwache einzutreten. Wenn ich durch Rom komme, zünde ich vielleicht in Sankt Peter eine Kerze an.»
«Ein Glücksritter», sagte der alte Mann. «Gut, gut.» Dann murmelte er etwas auf Griechisch, was den Jüngling veranlasste, Vallon scharf anzusehen. Um Atem ringend tastete der alte Mann unter seinem Mantel herum, zog eine Mappe aus weichem Leder hervor und drückte sie seinem Begleiter in die Hand. Der junge Mann schien die Mappe nicht nehmen zu wollen. Da packte ihn der Alte am Arm und richtete eindringliche Worte an ihn. Bevor er eine Antwort gab, sah der Jüngling Vallon erneut an. Welche Antwort er dann auch immer gegeben haben mochte – sie schien dem Sterbenden zu genügen. Er ließ seine Hand vom Arm des jungen Mannes gleiten. Sein Auge schloss sich.
«Er verlässt uns», murmelte der Jüngling.
Da öffnete der Alte unvermittelt noch einmal sein Auge und fixierte Vallon. Er flüsterte etwas – es klang wie das Rascheln, mit dem zerknittertes Pergament glattgezogen wird. Dann wanderte sein Blick in ein Gefilde jenseits des Wahrnehmbaren. Als Vallon sich hinunterbeugte, war das Auge schon getrübt.
Wie Nebel zog die Stille durch den Raum.
«Was hat er gesagt?»
«Ich weiß es nicht genau», sagte der junge Mann schluchzend. «Es war etwas über das Geheimnis der Flüsse.» Vallon bekreuzigte sich. «Wer war er?»
Der Jüngling schniefte. «Cosmas von Byzanz, auch Monophalmos genannt, der Einäugige.»
«Ein Priester?»
«Philosoph, Geograph und Diplomat. Der größte Entdecker unseres Zeitalters. Er ist den Nil hinauf zu den Pyramiden von Gizeh gesegelt, hat die Tempel von Petra erkundet und die Manuskripte aus Pergamon gelesen, die Marc Anton Kleopatra übergeben hat. Er hat die Lapislazuli-Minen in Persien gesehen, die Einhornjagd in Arabien und die Nelken- und Pfefferplantagen Indiens.»
«Du bist auch Grieche.»
«Ja, Herr. Aus Syrakus in Sizilien.»
Die Erschöpfung brachte Vallons Neugierde zum Erliegen. Das Feuer war beinahe ausgegangen. Er legte sich auf den schmutzigen Boden und deckte sich mit seinem Umhang zu. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Der Sizilianer intonierte einen Messgesang, die Totenklage vermischte sich mit dem dröhnenden Wind.
Vallon stemmte sich auf einen Ellenbogen. «Das genügt. Dein Meister hat seinen Frieden gefunden. Nun lass mir auch meinen.»
«Ich habe geschworen, ihn sicher zu beschützen. Und nun ist er vor Monatsfrist tot.»
Vallon zog sich den Umhang übers Gesicht. «Er ist nun in Sicherheit. Schlaf jetzt.»
Er hatte unruhige, wirre Träume. Als er aus diesem Dämmerschlaf voller Schreckbilder halb erwachte, sah er den Sizilianer bei dem Griechen kauern und ihm den Ring vom Finger ziehen. Den feinen Pelzumhang hatte er ihm schon weggenommen. Vallon setzte sich auf.
Ihre Blicke trafen sich. Der Sizilianer trug den Umhang herüber und hängte ihn dem Franken über die Schultern. Vallon schwieg. Dann kehrte der Sizilianer in seine Ecke zurück und streckte sich stöhnend aus. Vallon stellte sein Schwert aufrecht auf den Boden und stützte sein Kinn auf den Knauf. Er starrte vor sich hin, blinzelte wie eine Eule, jedes Blinzeln eine Erinnerung, jedes Blinzeln träger als das vorangegangene, bis seine Augen schließlich geschlossen blieben und er unter dem Wüten des Sturms einschlief.
Die Geräusche tropfenden Wassers und merkwürdiger, dumpfer Schläge weckten ihn wieder. Durch Spalten in den Wänden fiel Tageslicht herein. Eine Maus huschte von seiner Seite weg, wo der Sizilianer weißes Brot, Käse, ein paar Feigen und eine lederne Flasche hingelegt hatte. Vallon nahm das Mahl mit zur Tür und trat in den stechenden Sonnenschein hinaus. Schmelzwasserströme rauschten weiß schäumend die Felshänge herunter. Fußspuren führten als bläuliche Furchen durch den Schnee zu Tierpferchen hinüber. Ein Schneebrett stürzte von einem Überhang herab. Vallon spähte den Passweg hinauf und fragte sich, ob die anderen die sichere Zuflucht auf der Passhöhe erreicht hatten. Während seiner Rast dort oben hatte ihm ein Mönch eine Eiskammer gezeigt, in der über Winter die Leichen der Reisenden in der erfrorenen Körperhaltung abgelegt wurden, in der man sie aus dem Schnee gegraben hatte. Vallon setzte die Flasche an und schmeckte herben Rotwein. Wärme breitete sich in ihm aus. Als er gegessen hatte, reinigte er seine Zähne mit einem Zweig und spülte sich den Mund aus.