Prof Semjonowitsch verpaßte dem Scherzbold eine Backpfeife.
»Der schwindelt sich noch um Kopf und Kragen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Klappe halten!«
Fandorin legte angewidert die Stirn in Falten und ging zum Tisch zurück. Aber der Ärmelkanaltunnel ließ ihn jetzt kalt. Er konnte es kaum noch erwarten, mit Mademoiselle Helga Iwanowna Tolle ins Gespräch zu kommen.
Und der Kollegienassessor mußte sich nur noch eine Winzigkeit gedulden. Keine fünf Minuten waren vergangen, als der Diener von vorhin in den Büfettraum scharwenzelt kam und Fandorin ins Ohr wisperte: »Sie ist da, bitte schön. Wie soll ich melden?«
Fandorin entnahm seiner Schildpattbrieftasche ein Visitenkärtchen und kritzelte nach kurzem Überlegen mit einem kleinen silbernen Stift ein paar Worte darauf.
»Hier, b-b-... bring ihr das.«
Der Diener flitzte. Im Nu hatte er den Auftrag erfüllt und meldete: »Mademoiselle lassen bitten. Wenn Sie mir folgen würden. Ich geleite Sie, bitte schön.«
Draußen dunkelte es bereits. Fandorin betrachtete den 27
Anbau, dessen Erdgeschoß die geheimnisvolle Frau Wanda ganz in Beschlag hatte. Daß die Dame einen separaten Eingang benötigte, leuchtete ein, ihren Gästen war zweifellos an Konfidenz gelegen. Das Obergeschoß hatte einen Balkon, der, gestützt auf die Schultern einer ganzen Sippe von Karyatiden, schwer über Wandas hohen Fenstern hing. Auch ansonsten prunkte die Fassade mit allerlei Stuck, ganz nach dem schlechten Geschmack der sechziger Jahre, in denen dieses putzige Gebäude wohl errichtet worden war.
Der Diener betätigte die elektrische Klingel und entfernte sich, nachdem er seinen Rubel entgegengenommen hatte, mit artiger Verbeugung. So eifrig schien er darauf bedacht, Diskretion und Einfühlung zu verkörpern, daß er den Weg quer über den Hof auf Zehenspitzen zurücktrippelte.
Die Tür ging auf, und Fandorin sah eine schlanke, zierliche Frau mit toupiertem aschblondem Haar und großen, grünen Augen vor sich stehen, denen man die Spottlust ansah. Letztere schien sich allerdings gerade hinter einer Portion Argwohn verstecken zu wollen.
»Tritt ein, seltsamer Gast!« sprach die Mieterin des Etablissements mit brusttiefer Stimme, die durch das poetische Beiwort »betörend« wohl am besten beschrieben war. Einen Akzent, wie ihr deutscher Name ihn hätte erwarten lassen, konnte Fandorin beim besten Willen nicht heraushören.
Das von Mademoiselle Wanda gemietete Appartement bestand aus Diele und großem Wohnzimmer, das wohl zugleich als Boudoir diente. Ein in Anbetracht der Profession, welcher hier nachgegangen wurde, völlig naheliegender Gedanke, der Fandorin jedoch in Verlegenheit brachte, denn einer dieser leichtlebigen Damen sah Frau Wanda überhaupt nicht ähnlich. Nachdem sie ihren Gast ins Wohnzimmer gebeten und selbst in einem weichen türkischen Sessel Platz 27 genommen hatte, blickte sie, die Beine übereinandergeschlagen, dem immer noch im Türrahmen stehenden jungen Mann abwartend entgegen. Der seinerseits nahm sich die Zeit, Wanda und ihre Behausung im Schein der elektrischen Lampe eingehender zu betrachten.
Eine ausgesprochene Schönheit war sie auf den ersten Blick nicht. Die Nase ein bißchen sehr aufwärts gebogen, der Mund etwas zu breit, die Jochbeine stärker hervortretend, als der klassische Kanon gebot. Doch all diese Unzulänglichkeiten schienen die phänomenale Anziehungskraft der Frau nicht zu mindern, sondern auf merkwürdige Art zu verstärken. Von diesem Gesicht mochte man den Blick nicht wenden - so viel Leben war darin, so viel Gefühl und so viel von dem, was nicht zu beschreiben, doch von jedem Mann unfehlbar zu erspüren ist: jenem Zauber, den man Fraulichkeit nennt. Alle Achtung! dachte Fandorin. Wenn Mademoiselle Wanda sich bei den Moskauern solcher Popularität erfreute, schien es um deren Geschmack nicht zum schlechtesten zu stehen. Es fiel ihm schwer, die Augen von dem wunderbaren Gesicht loszureißen, um sich nunmehr das Zimmer näher zu besehen. Ein Pariser Interieur wie aus dem Bilderbuch, in Farbtönen von Purpur bis bordeaux: plüschiger Teppich, gediegenes, anheimelndes Mobiliar, eine Vielzahl Lampen und Leuchter mit bunten Schirmen, dazu einige chinesische Figürchen und an der Wand - der neueste Schrei! - japanische Stiche mit Geishas und Kabuki-Mimen. In der gegenüberliegenden Ecke befand sich, von zwei Säulen verdeckt, der Alkoven. Den Blick gezielt dorthin zu richten, verbot allerdings Fandorins Taktgefühl.
»Was alles?« beendete die Hausherrin das offensichtlich schon viel zu lange währende Schweigen. Fandorin zuckte zusammen: Er spürte geradezu physisch, wie ihre magische 28
Stimme ein paar höchst selten angerührte Saiten in seinem Inneren zum Schwingen brachte.
Und da sich in seinem Gesicht eine höfliche Begriffsstutzigkeit abzeichnete, fügte Wanda ungeduldig hinzu: »Auf Ihrer Karte, Herr Fandorin, steht: >Ich weiß alles.< Was soll das heißen, alles? Und wer sind Sie überhaupt?«
»Beamter im besonderen Auftrag des Generalgouverneurs Fürst Dolgorukoi«, gab Fandorin ruhig zur Antwort. »Beauftragt, die Umstände des Ablebens von Generaladjutant Sobolew zu ermitteln.«
Die feinen Brauen der Hausherrin schnellten nach oben; Fandorin sah es und bemerkte: »Geben Sie sich keine Mühe, Verehrteste, so zu tun, als wüßten Sie nichts vom Tod des Generals. Und was meine Notiz auf dem Kärtchen angeht, so habe ich Sie damit getäuscht. Ich weiß beileibe nicht alles, nur das Wichtigste ist mir klar: Michail Sobolew ist gestern nacht gegen ein Uhr hier in diesem Zimmer gestorben.«
Ein Beben ging durch Wandas Körper, sie legte die schmalen Hände um den Hals, als fröre sie, und sagte kein Wort. Fandorin sah es mit Befriedigung; er nickte und fuhr fort: »Sie haben niemanden verraten, Mademoiselle, und Ihr Wort also nicht gebrochen. Die Herren Offiziere sind selber schuld, sie waren beim Verwischen ihrer Spuren allzu ungeschickt. Ich möchte ganz offen zu Ihnen sein und darf auf gleich viel Ehrlichkeit Ihrerseits hoffen. Was ich bis jetzt weiß, ist das Folgende.« Er schloß die Augen zu einem Spalt, damit ihn das Farbspiel auf dem erregten Gesicht seiner Gesprächspartnerin, von zarter Röte zu feiner Blässe changierend, nicht aus dem Konzept brachte. »Sie sind mit Sobolew und seinem Gefolge aus der Restauration des >Dusseaux< direkt hierhergefahren. Das geschah kurz vor Mitternacht. Eine Stunde später war der G-... General bereits tot. Die Offiziere trugen ihn hinaus, indem sie ihn als betrunken ausgaben, und brachten ihn zurück in sein Hotel. Wenn Sie so freundlich wären, das Bild zu vervollständigen, könnte ich dafür sorgen, daß Ihnen weitere polizeiliche Verhöre erspart bleiben. Die Polizei ist übrigens schon dagewesen, die Diener haben es Ihnen gewiß berichtet. Es wäre also weit besser für Sie, sich mir zu offenbaren, das versichere ich Ihnen.«
Mehr sagte Fandorin nicht - mehr gab es seiner Meinung nach nicht zu sagen. Wanda erhob sich jäh, nahm den persischen Schal von der Stuhllehne und legte ihn sich um die Schultern, wiewohl der Abend warm, ja beinahe schwül war. Sie ging im Zimmer zweimal auf und ab, warf dem wartenden Beamten zwischendurch immer wieder einen kurzen Blick zu. Endlich blieb sie vor ihm stehen.
»Wenigstens sehen Sie einem Polizisten überhaupt nicht ähnlich. Setzen Sie sich. Die Erzählung kann sich hinziehen.«
Sie wies auf den weichen, ganz unter bestickten Kissen begrabenen Diwan, doch Fandorin zog es vor, sich auf einem Stuhl niederzulassen. Eine kluge Frau! beschied er im stillen. Stark, kaltblütig. Die ganze Wahrheit wird sie vielleicht nicht sagen. Aber lügen wird sie ebensowenig.
»Ich habe den Helden gestern im >Dusseaux< zum ersten Mal gesehen.« Wanda ergriff einen mit Brokat bezogenen Hocker und setzte sich neben Fandorin - ganz dicht und so, daß sie zu ihm aufsah. Aus dieser Perspektive wirkte sie auf berückende Weise schutzlos, wie eine orientalische Sklavin zu Füßen des Padischah. Fandorin rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, doch abzurücken hätte dumm ausgesehen.