»Ein schöner Mann. Ich hatte natürlich schon viel von ihm gehört, doch daß er so gut aussah, hatte ich nicht vermutet. Besonders diese kornblumenblauen Augen.« Wanda fuhr 29
sich mit der Hand zerstreut über die Brauen, so als wollte sie die Erinnerung verscheuchen. »Ich habe für ihn gesungen. Er lud mich an seinen Tisch. Ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat, bestimmt ist viel üble Nachrede dabei. Ich bin keine Dirne, ich bin eine moderne, freizügige Frau, die selbst entscheidet, wen sie liebt und wen nicht.« Wanda schaute Fandorin herausfordernd an, und er meinte zu sehen, daß sie jetzt ganz ungeschminkt zu ihm sprach. »Wenn mir ein Mann gefällt und ich ihn haben will, schleppe ich ihn nicht vor den Altar, wie das die sogenannten ordentlichen Frauen tun. Nein, ordentlich bin ich gewiß nicht. Weil ich nämlich eure Ordnungen nicht anerkenne.«
Von wegen Sklavin und schutzlos! dachte Fandorin verblüfft, während er in ihre blitzenden Augendiamanten hinunterblickte. Eher war sie eine Amazonenkönigin. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie den Männern den Kopf verdrehte mit diesen gezielten Registerwechseln, von Hochmut zu Demut und wieder retour.
»Mehr z-zur Sache, wenn ich bitten darf«, sagte Fandorin trocken, da er sich den unpassenden Gefühlen, die ihn bestürmten, nicht gern ergeben wollte.
»Mehr z-zur Sache geht gar nicht«, äffte die Amazone ihn nach. »Nicht ihr kauft mich, nein, ich kaufe euch und lasse euch noch dafür zahlen! Ich möchte nicht wissen, wie viele ordentliche Frauen ihre Gatten liebend gern mit dem Weißen General betrogen hätten, nur eben heimlich, still und leise. Ich hingegen bin frei und habe nichts zu verbergen. Sobolew hat mir gefallen, jawohl.« Schon wieder hatte sie den Tonfall gewechselt, klang jetzt nicht mehr herausfordernd, sondern verschmitzt. »Und ich gebe zu, daß es mir schmeichelte, so einen Schwalbenschwanz in meine Sammlung zu bekommen. Gut. Wie ging es weiter?« Wanda hob die Schultern.
»Ganz normal. Wir sind zu mir gefahren, haben Wein getrunken. Was dann kam, weiß ich nur noch dunkel. Ich war im Rausch. Wir müssen ziemlich schnell dort im Alkoven gelandet sein.« Sie lachte rauh, doch das Lachen brach gleich wieder ab, und ihr Blick umwölkte sich. »Das Ende war furchtbar, ich mag nicht daran denken. Ersparen Sie mir die physiologischen Details, ja? So etwas wünscht man keinem ... Wenn der Liebhaber auf dem Höhepunkt der Gefühle plötzlich innehält und auf dich fällt als ein totes Gewicht... « Wanda schluchzte und wischte sich wütend eine Träne von der Wange.
Fandorin verfolgte ihre Mimik und Tonlage genau, und ihm schien immer noch, daß Mademoiselle die Wahrheit sprach. Nach einer angemessenen Pause fragte Fandorin: »War es Zufall, daß Sie dem G-... General begegnet sind?«
»Ja. Das heißt, nicht ganz. Daß er im >Dusseaux< abgestiegen war, wußte ich. Und ich war neugierig auf ihn.«
»Hat er denn viel Wein getrunken bei Ihnen?«
»Bestimmt nicht. Eine halbe Flasche Chateau Yquem, das war alles.«
»Nanu?« Fandorin wunderte sich. »Hat er den Wein mitgebracht?«
»Nein. Wie kommen Sie darauf?« fragte die Gastgeberin verwundert zurück.
»Ich habe den Toten recht gut gekannt, Mademoiselle. Chateau Yquem war sein Lieblingswein. Woher konnten Sie das wissen?«
Wanda schlug theatralisch die schmalen Hände zusammen.
»Das wußte ich überhaupt nicht. Aber Chateau Yquem ist auch meine Marke. Überhaupt hatten wir zwei, der General und ich, viele Gemeinsamkeiten. Um so trauriger, daß die 30
Bekanntschaft nicht von Dauer war.« Sie lächelte bitter und sah wie unabsichtlich nach der Kaminuhr.
Fandorin, dem diese Regung nicht entgangen war, ließ sich Zeit bei seinem Verhör.
»Na schön. Das weitere läßt sich denken. Sie bekamen einen Schreck, wahrscheinlich haben Sie g-... geschrien, die Offiziere liefen herbei und versuchten, Sobolew wieder zum Leben zu erwecken. Wurde nach einem Arzt geschickt?«
»Nein, man sah ja, daß er tot war. Die Offiziere hätten mich am liebsten in der Luft zerrissen.« Sie lächelte schon wieder, doch diesmal nicht bitter, sondern hämisch. »Besonders der eine, in so einer Tscherkeßka. Der konnte sich gar nicht einkriegen von wegen Schande und daß nun die ganze Sache in Gefahr sei, Tod im Hurenbett und so weiter.« Wandas Lächeln wurde unfein, entblößte ihre makellosen weißen Zähne. »Und noch so ein finsterer Jessaul war dabei, der heulte erst herum, und dann meinte er: >Wenn du quatschst, schlag ich dich tot.< Geld hat er auch geboten. Ich hab's genommen, falls es Sie interessiert. Und die Drohungen haben mich erschreckt, muß ich zugeben. Das klang doch alles sehr einschüchternd, besonders bei dem Jessaul.«
»Ja, ja, das kenne ich!« Fandorin nickte.
»Sehen Sie ... Dann haben sie ihn angekleidet, bei den Armen gepackt wie einen Betrunkenen und fortgeschleift, den tapferen Helden. Es war einmal ... Sie wollten doch die Wahrheit wissen. Das ist sie. Berichten Sie Ihrem Gouverneur: Rußlands große Hoffnung, der Bezwinger der Muselmanen, starb im Bett einer Hure den Heldentod. Ehe man sich versieht, ist man als neue Delila in die Geschichte eingegangen. Was meinen Sie, Monsieur, ob eines Tages etwas über mich in den Schulbüchern stehen wird?«
Diesmal klang ihr Lachen kampflustig.
»Wohl kaum«, erwiderte Fandorin ganz in Gedanken.
Das Bild schien klar. Und der Eifer, mit dem die Offiziere ihr Geheimnis zu hüten gedachten, war nur allzu verständlich. Ein Nationalheld - mit solch einem Ende. Wie häßlich. Und irgendwie unrussisch. Die Franzosen hätten es ihrem Idol vermutlich vergeben - in Rußland mußte es als nationale Schande gelten.
Frau Wanda hatte jedenfalls nicht viel zu befürchten. Zwar oblag es dem Gouverneur zu entscheiden, was mit ihr werden sollte, doch dafür, daß die freiheitsliebende Sängerin von den Behörden zumindest nicht offiziell behelligt werden würde, durfte man die Hand ins Feuer legen.
Man hätte den Fall also als abgeschlossen ansehen können. Doch neugierig, wie Fandorin nun einmal war, gab ihm seine beiläufige Beobachtung von vorhin keine Ruhe. Wanda hatte inzwischen schon mehrfach heimlich zur Uhr geschaut, und er meinte in diesen flüchtigen Blicken eine wachsende Unruhe bemerkt zu haben. Der kleine Zeiger näherte sich unterdessen der Zehn, fünf Minuten blieben noch. Konnte es sein, daß Frau Wanda um zehn Uhr Besuch erwartete? Und daß ihr auffälliges Entgegenkommen nur diesem Umstand zu verdanken war? Fandorin zögerte. Zu gern hätte er einerseits erfahren, wen die Dame zu solch später Stunde noch erwartete. Andererseits hatte Fandorin schon als Kind gelernt, daß man Damen nicht zur Last fiel. In einer Situation wie dieser verbeugt sich ein wohlerzogener Mensch und geht - zumal, wenn er bekommen hat, was er wollte. Also? Ein vernünftiger Gedanke setzte allem Zaudern ein Ende. Selbst wenn er seinen Abgang bis zehn hinauszögerte und den Gast noch zu sehen bekam, würde in seiner Gegenwart ganz bestimmt kein spannendes Gespräch in Gang kommen.
Dieses Gespräch aber war es, das Fandorin am allermeisten interessierte.
Also erhob sich Fandorin, dankte der Gastgeberin für ihre Offenheit und verabschiedete sich, womit er Mademoiselle augenscheinlich einen Gefallen tat. Doch als Fandorin aus der Tür des Seitenflügels getreten war, hatte er es nicht eilig, den Hof zu überqueren, sondern blieb stehen, wie um sich irgendwelchen Staub vom Ärmel zu wischen, und warf einen Blick auf die Fenster hinter sich. Vielleicht schaute Wanda ihm nach? Nein. Es war nur natürlich, daß sie jetzt nicht am Fenster stand, sondern dort, wohin sich jede normale Frau begibt, wenn ein Gast gegangen und der nächste schon im Anmarsch ist: vor dem Spiegel. Sicherheitshalber wanderte sein Blick aber noch einmal die erleuchteten Hotelfenster ab, bevor Fandorin den Fuß auf einen Mauervorsprung setzte und von da, artistisch auf die Schräge der Fensterbank gestützt, noch weiter hinaufschnellte; einen Moment später kauerte er auf dem vorspringenden Sturz von Wandas Wohnzimmerfenster. Mit der Hüfte lagerte er auf dem schmalen Sims, ein Fuß klemmte im Busen der einen Karyatide, eine Hand hing fest um den kräftigen Nacken der zweiten. Nachdem er sich noch ein bißchen zurechtgedreht hatte, verharrte er reglos in dieser Lage - das heißt, er wurde, der Kunst der japanischen Ninja-Krieger folgend, zu Stein, zu Wasser, zu Gras. Löste sich in der Landschaft auf. Strategisch gesehen war Fandorins Position ideaclass="underline" Vom Hof aus konnte man ihn nicht sehen (der Dunkelheit wegen und weil der Schatten des Balkons über ihm zusätzlich Schutz bot), aus dem Zimmer schon gar nicht. Er aber überblickte den gesamten